Unsere nackte Vernunft weiß nicht, was wir wirklich brauchen

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Wir Menschen können unsere lebendigen Bedürfnisse nur stillen, indem wir ihnen folgen. Das aber fällt den meisten Menschen gegenwärtig noch sehr schwer. Zu fest hat sich in unseren Gehirnen die Vorstellung eingegraben, alle Probleme dieser Welt ließen sich mit dem Verstand lösen.

Glücklicherweise ist unser menschliches Gehirn so konstruiert, dass es zu jedem Zeitpunkt im Leben in der Lage ist, die bis dahin herausgeformten, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden, Nervenzellverschaltungen umzubauen und an neue Erfordernisse anzupassen. Im Gegensatz zu Robotern und Automaten verfügen wir Menschen über tief in uns angelegte lebendige Bedürfnisse.

Sie werden wach, wenn sie ungestillt bleiben, und dann zwingen sie uns, darüber nachzudenken und eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie sie zu stillen wären. Falls sich herausstellt, dass sich die so gefundene Vorstellung auf Dauer dafür doch nicht eignet, erwacht das betreffende Bedürfnis erneut. Und auch dann, wenn wir recht gut gelernt haben, andere lebendige Bedürfnisse zu unterdrücken, um eine bestimmte Vorstellung umsetzen zu können, ist dieses, durch die Herausbildung hemmender Nervenzellverschaltungen nicht mehr wahrgenommene, Bedürfnis ja nicht weg. Es kann deshalb zu jedem Zeitpunkt im Leben wieder erwachen und so stark werden, dass die betreffende Person gezwungen ist, nach einer Lösung zu suchen. So kann sie sich eine neue Vorstellung nach der anderen zu eigen machen, bis sie irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, dass es zu deren Umsetzung doch immer wieder notwendig ist, ein anderes lebendiges Bedürfnis in sich selbst zu unterdrücken.

Vielleicht öffnet sich dann ihr Blick und die betreffende Person beginnt zu verstehen, dass wir Menschen unsere lebendigen Bedürfnisse nur stillen können, indem wir ihnen folgen.

Und vielleicht erkennt sie dann auch, dass unsere Bedürfnisse aus unserer eigenen Lebendigkeit erwachsende Botschaften sind, die uns auffordern, dieses Lebendige in uns zu bewahren und ihm durch die Art und Weise, wie wir mit uns selbst und allem Lebendigen umgehen, Ausdruck zu verleihen. Dazu bedarf es keiner Vorstellung, das brauchen wir einfach nur zu tun, zum Beispiel, indem wir etwas liebevoller mit uns selbst umgehen.

Das aber fällt den meisten Menschen gegenwärtig noch sehr schwer. Zu fest hat sich in unseren Gehirnen die Vorstellung eingegraben, alle Probleme dieser Welt ließen sich mit dem Verstand lösen. Das war das Credo, mit dem das Zeitalter der Aufklärung seinen Siegeszug vor nun schon über dreihundert Jahren begonnen hatte. Die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften, die durch den Einsatz des nackten Verstandes in diesem Zeitraum hervorgebracht wurden, sind so beeindruckend und so bestimmend für unser heutiges Leben geworden, dass es eine naheliegende Versuchung war, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in den Mittelpunkt unseres eigenen Selbstverständnisses zu stellen.

Erst jetzt, angesichts der wachsenden Probleme auf der Welt, wird offenbar, dass wir mit Hilfe unseres nackten Verstandes nicht nur viele Probleme lösen, sondern auch sehr viele, bisher nicht dagewesene Probleme erzeugen können.

Anstatt uns immer stärker mit allem Lebendigen zu verbinden, hat uns der Einsatz unserer kognitiven Fähigkeiten immer stärker von allem Lebendigen getrennt.

Wir können inzwischen auf den Mond und womöglich bald auch auf den Mars fliegen. Aber wir schauen rat- und tatenlos zu, wie jeden Tag unvorstellbar viele Menschen verhungern, immer mehr Arten aussterben, Kriege angezettelt, Urwälder und Landschaften zerstört werden – das alles und noch viele andere lebensbedrohliche Entwicklungen verdanken wir dem Einsatz der kognitiven Fähigkeiten von Menschen. Offenbar hat uns die Vorstellung, mit dem nackten Verstand ließen sich alle Probleme dieser Welt lösen, in eine fatale Sackgasse geführt.

Unser Verstand ermöglicht es uns, Vorstellungen davon herauszubilden, wie etwas gemacht werden muss, damit es zu dem gewünschten Ergebnis führt. Aber er versagt kläglich, wenn es darum geht, unsere lebendigen Bedürfnisse zu stillen.

Der Verstand weiß nicht und sagt uns auch nicht, worauf es im Leben ankommt. Er hat keine Ahnung von unseren wahrhaftigen menschlichen Bedürfnissen.

Im Gegenteil, ihn können wir ja sogar benutzen, um diese lebendigen Bedürfnisse zu unterdrücken. Und solange wir bestimmte Vorstellungen verfolgen, ist es uns auch egal, wenn wir dabei lieblos mit uns selbst, mit anderen und auch mit anderen Lebewesen umgehen.

Statt mit unseren festen Überzeugungen und Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, müssten wir uns wieder mit unserer eigenen Lebendigkeit verbinden, mit unserer Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit unserer Sinnlichkeit und unserem Körperempfinden, auch mit unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit im Zusammenleben mit anderen. Dann könnten wir endlich auch all das wiederfinden, was wir ja alle bereits mit auf die Welt gebracht haben und zumindest eine Zeitlang erlebt hatten, als wir noch kleine Kinder waren. Aber damals wussten wir ja noch nicht, wie rasch und wie nachhaltig wir diese uns ganz selbstverständlich erscheinende Lebendigkeit verlieren, indem wir den Vorstellungen unserer Eltern, Erzieher und Lehrer und all der anderen Menschen folgen, an denen wir uns orientiert haben. Dass wir dabei gezwungen waren, diese lebendigen Bedürfnisse in uns selbst zu unterdrücken, konnten wir damals noch nicht erkennen.

Aber erstens ist es nie zu spät, um das, was wir damals verloren haben, wiederzufinden und zweitens können wir unseren Kindern heute dabei helfen, all das, was sie lebendig macht, künftig nicht mehr unterdrücken zu müssen.

Eine liebevolle innere Einstellung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen kann ein Kind nur herausbilden, wenn es auch liebevoll auf seinem Weg ins Leben begleitet wird.

Gerald  Hüther

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