Die Suche des Lichts

Suche des Lichts

Es war einmal ein warmes helles Licht. Geborgen und strahlend lebte es lange Jahre im Kreise seiner Lieben. In letzter Zeit war es jedoch ein sehr trauriges Licht geworden. Schwach und kraftlos vom vielen Weinen und ganz großem Kummer. Der Sturm war in ihre Familie gekommen und hatte die jüngste und kräftigste Flamme mitgenommen. Ganz plötzlich, einfach so. Die große Trauer und der Schmerz zerrissen dem Licht dabei fast sein Herz.

Wie kann ich wieder zu Kräften kommen und mein Leuchten weiter strahlen lassen? Mit dieser Frage geht das Licht von nun an täglich schlafen und träumt von bunten Blumenwiesen und hell erleuchteten Sternen am Himmelszelt. Dort oben ist ja jetzt das verloschene Erdenlicht. Es zaubert mit seinem Strahlen ein Lächeln in seine Träume, in sein trauriges Gesicht und trocknet so die vielen Tränen in den schmal gewordenen Augen. Dabei verbinden sich die Seelen der beiden Lichter innig und tief.

„Mach dich auf den Weg, ruft ihm sein Stern zu! Sei mutig! Geh hinaus! Da draußen gibt es viele Flammen, denen es ähnlich geht wie dir, ihr braucht einander! Und es sind auch viele Lichter am Weg, die da sind für dich und dir helfen können!“

„Da oben leuchten die Sterne und unten da leuchten wir…“  Mit diesem Lied auf seinen Lippen macht sich das Licht tapfer auf den Weg, um sein sonniges Strahlen wieder zu finden. Mutig zieht es hinaus in die Welt, auf der Suche nach Wärme und nach Feuer, das es nähren kann. Auf diesem Weg trifft es bald auf das vertraute Licht eines bekannten warmherzigen Weisen. Ich kann dich immer wieder ein Stück begleiten, wenn du magst, bietet er dem Licht an. Und ich kenne warme Feuerstellen, wo du dein Herz und deine Augen wärmen und trocknen kannst. Sehr neugierig geworden und mutig geht das Licht dem großen Wasser entlang, bis es zu der vom Weisen beschriebenen Stelle am Flussufer kommt. Und tatsächlich, hier sitzen schon andere Lichter und gemeinsam mit einem weiteren Weisen stärken sich alle an der hellen Kraft des Feuers. Sie erzählen sich reihum ihre Geschichten. Berührende, lustige und traurige, kurze und lange, alte und neue Geschichten. Und die weisen Lichter geben dabei ihren tiefen Erfahrungsschatz und ihr umfangreiches Wissen weiter. Das Licht fühlt sich wohl in der warmen Gruppe und nährt seine Seele. Es ist nicht allein. Jedes Licht hat sein ganz eigenes Feuer mit und sie teilen es miteinander. Und die Wärme wird damit eine andere. Die Flammen wachsen miteinander, werden kräftiger und klarer. Dem Licht gefällt das ausgesprochen gut und es macht sich auf die Suche nach weiteren Feuerstellen, die sein Herz erwärmen.

Es wandert über grüne Wiesen und besteigt hohe Berge, es sät goldgelbe Sonnenblumen, erkundet tiefe Wälder und segelt über das blaue Meer. Es bereist exotische Inseln, beobachtet leuchtende Käfer und bunte Blumen.
Das Licht entdeckt mit Freude wieder sein kindliches Staunen und fühlt mit Demut die Kraft und die Ruhe, die von all dem ausgeht. Dem Licht wird bewusst, dass die Sonne nie untergeht, dass die Sonne immer da ist, ob bei Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang. So wie vieles im Leben immer da ist, egal ob das Licht das sehen kann oder auch nicht! Das Licht weiß sich gut aufgehoben im weiten Universum und blickt in das Sternenzelt über ihm, zu seinem großen leuchtenden Stern, der mit seinem hellen Strahlen all das verbindet. Es singt inzwischen die zweite Strophe von seinem Lied: „Ich trag mein Licht, ich fürcht mich nicht…“.

Bei all dem bemerkt das Licht immer mehr, wie wichtig es ist, das Feuer zu teilen und zu vermehren. Das Leuchten größer zu machen als die Angst und die Ohnmacht. Dem Licht wird klar, je mehr Lichter ihre ganz eigene Strahlkraft entdecken, desto heller und wärmer wird es für alle Lebewesen auf ihrer kleinen gemeinsamen Erdenkugel!  Es will mehr erfahren und lernen, wie es das Feuer weitergeben kann. Das Licht kehrt daher so oft als möglich zu der Feuerstelle am Flussufer stromaufwärts zurück. Und wie verschieden auch die Geschichten am Lagerfeuer sind, die sie sich reihum erzählen, im Kern sind sich viele Geschichten ähnlich. Sie handeln von Liebe und Abschied, von Angst und Schmerz, Mut und Hoffnung. Dem Licht werden beim Erzählen und Zuhören immer wieder auch die Augen geöffnet, es sieht vieles größer, weiter, klarer. Das ist spannend und berührend. Das Licht genießt die warmen gemeinsamen Stunden mit den inzwischen so vertrauten Gesichtern.

Es merkt aber auch, wie es zwischendurch an sich zweifelt: „Darf ich so leuchten wie ich leuchte; ist es gut, so wie es ist? In solchen Momenten fällt es ihm schwer, sich sein Strahlen zu erlauben, es annehmen und spüren zu dürfen. Es fragt die weisen Lichter um Rat: „Mein Licht ist schön? Könnt ihr es sehen?“ Diese schauen ihm mit einem tiefen weichen Blick in seine feuchten Augen und lassen die nachschwingende Ruhe zu. Fühlen kannst du nur von innen nach außen, scheinen sie damit zu sagen. Horch in dich hinein, lass all das zu, was kommen mag, und vertrau dir. Wir sind dabei an deiner Seite.

Bei diesen wohltuenden und anregenden Sitzungen am Feuer bemerkt es, wie es spürbar kräftiger und stabiler wird. Wie es dem Wind und den Stürmen des Lebens besser trotzen kann. Wie das Licht an Tiefe und Ausstrahlung gewinnt. Mutig und gestärkt geht das Licht weiter seinen Weg und entdeckt weitere Feuerstellen. Es lernt dabei, wie es das Feuer weitergeben kann. Damit auch andere Lichter auf ihr eigenes Leuchten neugierig werden und aus vollem Herzen mitsingen: „Da oben leuchten die Sterne, und hier unten da leuchten wir!“

Während das Licht von Feuerstelle zu Feuerstelle wandert, zieht ein heftiges Unwetter über das gesamte Land, ja über die gesamte Erdenkugel. Der heftige Wind peitscht allen Lichtern entgegen. Feurige Blitze und tiefes Donnergrollen erschüttern kleine und große, alte und junge und ganz besonders einsame und geschwächte Lichter. Ein Jahrhundertsturm zieht übers Land. Er macht vor nichts und niemanden halt. Mühsam bahnen sich unzählige Lichter den Weg durch das viele Dunkel, durch Gestrüpp und Finsternis. Mit einer nie zuvor erlebten Ausdauer bläst der Sturm Tag für Tag über die gesamte Erdenkugel. Auch das Licht braucht all seinen Mut und seine Leuchtkraft und muss sich mit seinen Lieben und Vertrauten gut schützen. Es ist jedoch bereits wieder so kräftig, dass es dabei in seinem Lichterherz trocken und warm bleiben kann und dafür ist es sehr dankbar.

Weitere Vollmonde ziehen ins Land. Das Licht singt die nächste Strophe seines Liedes: „Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht… aber nur meine schöne Laterne nicht“. Das Licht lernt, sein Leuchten weiterzugeben, ohne selbst dabei zu verbrennen. Es lernt flussaufwärts und flussabwärts, mit offenen Augen und Ohren und aus vollem Herzen zuzuhören. Es lernt auch, diese Geschichten von seiner eigenen Geschichte zu trennen und doch den gemeinsamen Kern der Geschichten zu erkennen. Dem Kern von Schmerz und Trauer, von Angst und Mut, von der Liebe und der Hoffnung.

Das Leuchten und das Herz größer machen. Das hatte das Licht sich vorgenommen. Das war sein Ziel, als es sich auf den Weg machte. Das Lichterherz wurde ja tatsächlich von Schmerz und Kummer fast überflutet und die Angst, darunter zu verglimmen, war groß. Doch nicht nur die Trauer und die Sehnsucht waren da. Auch die so kostbaren und wertvollen Erinnerungen. Auch die Dankbarkeit, die Schönheit und die Freude. Das Licht der Liebe überstrahlt die Dunkelheit und die Zweifel. Es ist stärker als Neid und Verbitterung, klarer als Angst und Verzweiflung. Das Licht stimmte aus tiefster Seele der Geschichte eines alten Meisters zu, die es in den Büchern fand: „Glück ist Liebe, nichts anderes. Jede Bewegung unserer Seele, in der sie sich selber empfindet und ihr Leben spürt, ist Liebe. Wer lieben kann, ist glücklich“. Das Licht hat den kraftvollen Stern der Liebe mitten in seinem Herz! Und mit dem Schatz der Liebe im Herzen konnte es weiterstrahlen und weiter glücklich sein.

Und egal wie lang sein Weg noch sein durfte, wie viele Kurven, Höhen und Tiefen noch vor ihm lagen. Es mochte ihn mit Liebe und Zuversicht zu Ende gehen und die Erdenkugel damit ein Stück heller verlassen, als sie vor ihm da war. Mit der Hoffnung im Herzen, dass sich am Ende des Weges all seine lieben Erdenlichter, die ihm vorausgegangen waren, auf das große Wiedersehen freuen. Dass besonders sein so innig geliebter Stern darauf wartet, mit dem Licht um die Wette zu strahlen. So kann es sich mit Frieden im Herzen und ohne Furcht auf die letzte Strophe des Liedes freuen: „Mein Licht ist aus… ich geh nach Haus!“.  Und sie leuchten noch ewig – glücklich und vereint!

Weitere Beiträge

Antworten