H. Hesse: Eigensinn

Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr. Eine einzige. Sie heißt: Eigensinn.
Von allen den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern reden hören, kann ich nicht so viel halten. Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen: Tugend ist Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen so sehr beliebten und gelobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen unbedingt Heiligen: dem Gesetz in sich selbst, dem Sinn des Eigenen.
Es ist sehr schade, dass der Eigensinn so wenig beliebt ist. Genießt er irgendwelche Achtung? O nein, er gilt sogar für ein Laster und auch für eine bedauerliche Unart. Man nennt ihn bloß da bei seinem vollen schönen Namen, wo er stört und Hass erregt. Übrigens: Wirkliche Tugenden stören immer und erregen Hass, siehe Sokrates, Jesus, Giordano Bruno und alle anderen Eigensinnigen […]
Aber nehmen wir doch das Wort einmal wörtlich. Was heißt denn Eigensinn? Das, was einen eigenen Sinn hat. Oder nicht? Einen eigenen Sinn nun hat jedes Ding auf Erden, schlechthin jedes, jeder Stein, jedes Gras, jede Blume, jeder Strauch, jedes Tier wächst, lebt, tut und fühlt lediglich nach seinem eigenen Sinn und darauf beruht es, dass die Welt gut, reich und schön ist. Dass es Blumen und Früchte, dass es Eichen und Birken, dass es Pferde und Hühner, Zinn und Eisen, Gold und Kohle gibt, das alles kommt einzig und allein davon her, dass jedes kleinste Ding im Weltall, seinen Sinn, sein eigenes Gesetz in sich trägt und vollkommen sicher und unbeirrbar seinem Gesetze folgt.
Einzig zwei arme, verfluchte Wesen auf Erden gibt es, denen es nicht vergönnt ist, diesem ewigen Ruf zu folgen und so zu sein, so zu wachsen, zu leben und zu sterben, wie es ihnen der tief eingeborene eigene Sinn befiehlt. Einzig der Mensch und das von ihm gezähmte Haustier sind dazu verurteilt, nicht der Stimme des Lebens und Wachstums zu folgen, sondern irgendwelchen Gesetzen, die von Menschen aufgestellt sind und die immer von Zeit zu Zeit wieder von Menschen gebrochen und geändert werden. Und das ist nun das Sonderbarste: Jene wenigen, welche die willkürlichen Gesetze missachteten, um ihren eigenen natürlichen Gesetzen zu folgen, sie sind zwar meistens verurteilt und gesteinigt worden, nachher aber wurden sie, gerade sie, für immer als Helden und Befreier verehrt. Dieselbe Menschheit, die den Gehorsam gegen ihre willkürlichen Gesetze als höchste Tugend bei den Lebenden preist und fordert, dieselbe Menschheit nimmt in ihr ewiges Pantheon gerade jene auf, die jener Forderung Trotz boten und lieber ihr Leben ließen als ihrem eigenem Sinn untreu wurden. Das Tragische, jenes wunderbar hohe mystisch-heilige Wort, das so voll von Schauern aus einer mythischen Menschheitsjugend her ist und das jeder Berichterstatter täglich so namenlos missbraucht, das Tragische bedeutet ja gar nichts anderes als das Schicksal des Helden, der daran zugrunde geht, dass er entgegen den hergebrachten Gesetzen dem eigenen Sterne folgt. Dadurch und einzig dadurch eröffnet sich der Menschheit immer wieder die Erkenntnis vom eigenen Sinn. Denn der tragische Held, der Eigensinnige, zeigt den Millionen der Gewöhnlichen, der Feiglinge, immer wieder, dass der Ungehorsam gegen Menschensatzen keine rohe Willkür sei, sondern Treue gegen ein viel höheres, heiligeres Gesetz.
Anders ausgedrückt: Der menschliche Herdensinn fordert von jederman vor allem Anpassung und Unterordnung. Seine höchsten Ehren aber reserviert er keineswegs den Duldsamen, Feigen, Fügsamen, sondern gerade den Eigensinnigen, den Helden. Wie die Berichterstatter die Sprache missbrauchen, wenn sie jeden Betriebsunfall in einer Fabrik tragisch nennen, was für sie, die Hanswurste, gleichbedeutend ist mit bedauerlich. So tut die Mode nicht minder Unrecht, wenn sie vom Heldentod all der armen hingeschlachteten Soldaten spricht. Das ist auch so ein Lieblingswort der Sentimentalen, vor allem der Daheimgebliebenen. Die Soldaten, die im Kriege fallen, sind gewiss unseres höchsten Mitgefühls würdig, sie haben oft Ungeheures geleistet und gelitten und sie haben schließlich mit ihrem Leben bezahlt. Aber darum sind sie nicht Helden, so wenig wie der, der eben noch ein einfacher Soldat war und vom Offizier wie ein Hund angeschrien wurde, durch die tötende Kugel plötzlich zum Helden wird. Die Vorstellung ganzer Massen, ganzer Millionen von Helden ist an sich widersinnig. Der Held ist nicht der gehorsame, brave Bürger und Pflichterfüller. Heldisch kann nur der Einzelne sein, der seinen eigenen Sinn, seinen edlen natürlichen Eigensinn zu seinem Schicksal gemacht hat. Schicksal und Gemüt sind Namen eines Begriffes, hat Novalis gesagt, einer der tiefsten und unbekanntesten deutschen Geister. Aber nur der Held ist es, der den Mut zu seinem Schicksal findet.
Würde die Mehrheit der Menschen diesen Mut und Eigensinn haben, so sähe die Erde anders aus. Unsere bezahlten Lehrer zwar, dieselben, die uns die Helden und Eigensinnigen früherer Zeiten so sehr zu rühmen wissen, sagen, es würde dann alles drüber und drunter gehen. Beweise haben und brauchen sie nicht. In Wirklichkeit würde unter Menschen, die selbstständig ihrem inneren Gesetz und Sinn folgen, das Leben reicher und höher gedeihen. In ihrer Welt würde manches Scheltwort und mancher rasche Backenstreich vielleicht ungesühnt bleiben, welcher heute ehrwürdige staatliche Richter beschäftigen muss. Es würde auch hin und wieder ein Totschlag passieren. Kommt das trotz allen Gesetzen und Strafen nicht auch heute vor? Manche furchtbare und unausdenklich traurige irrsinnige Dinge aber, die wir mitten in unserer so wohlgeordneten Welt schauerlich gedeihen sehen, wären dann unbekannt und unmöglich, z.B. Völkerkriege.
Jetzt höre ich die Autoritäten sagen: Du predigst Revolution! Wieder ein Irrtum, der nur unter Herdenmenschen möglich ist. Ich predige Eigensinn, nicht Umsturz. Wie sollte ich Revolution wünschen? Revolution ist nichts anders als Krieg, ist genau wie dieser eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der Mensch aber, der einmal den Mut zu sich selber gefühlt und die Stimme seines eigenen Schicksals gehört hat, ach, dem ist an Politik nicht das Mindeste mehr gelegen, sie sei nun monarchisch oder demokratisch, revolutionär oder konservativ. Ihn kümmert anderes. Sein Eigensinn ist wie der tiefe, herrliche, gottgewollte Eigensinn jedes Grashalms auf nichts anderes gerichtet als auf sein eigenes Wachstum. Egoismus, wenn man will. Allein dieser Egoismus ist ein ganz und gar anderer als der verrufene des Geldsammlers oder des Machtehrgeizigen. Der Mensch mit seinem Eigensinn, den ich meine, sucht nicht Geld oder Macht. Er verschmäht diese Dinge nicht etwa, weil er ein Tugendbold und resignierender Altruist wäre, im Gegenteil. Aber Geld und Macht und all die Dinge, um derentwillen Menschen einander quälen und am Ende totschießen, sind dem zu sich selbst gekommenen Menschen, dem Eigensinnigen, wenig wert. Er schätzt eben nur eines hoch: die geheimnisvolle Kraft in ihm selbst, die ihn leben heißt und ihm wachsen hilft. Diese Kraft kann durch Geld und dergleichen nicht erhalten, nicht gesteigert, nicht vertieft werden, denn Geld und Macht sind Erfindungen des Misstrauens. Wer der Lebenskraft in seinem Innersten misstraut, wem sie fehlt, der muss sie durch solche Ersatzmittel wie Geld kompensieren. Wer das Vertrauen zu sich selber hat, wer nichts anderes mehr wünscht, als sein eigenes Schicksal rein und frei in sich zu erleben und ausschwingen zu lassen, dem sinken jene überschätzten, tausend Mal überzahlten Hilfsmittel zu untergeordneten Werkzeugen hinab, deren Besitz und Gebrauch angenehm, aber nie entscheidend sein kann […]

Auszüge aus Hermann Hesse: Eigensinn (1919).
Den vollständigen Essay zum Hören gibt es hier:
youtube.com/watch?v=po3go_DHdRE

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Antworten

  1. Danke für den Beitrag. Er spricht mich sehr an und berührt mich. Ich möchte es als Aufrichtigkeit bezeichnen, sich selbst und dem Leben gegenüber – was nie getrennt ist. Die eigene (göttliche) Verwirklichung ist ein schöner und herausfordernder Weg. Oft steinig und der Verzweiflung nahe und dann wieder voller Freude und im ekstatischen Höhenrausch. Intensiv gelebt und sich nicht verfehlend, von einer unglaublichen Lebendigkeit. Nach meinem Empfinden braucht es dafür eine hohe Bewusstheit für die Verbundenheit allen Lebens, damit Liebe, Nachsicht und Mitgefühl sich selbst und allen Wesen und Geschöpfen gegenüber nicht auf der Strecke bleiben. Vielleicht ist das der Unterschied zu einem puren Eigensinn – sozusagen eine höhere Entwicklungsstufe davon.