H. Körner: Das Licht am Ende des Ganges
Eines Tages hatte er beschlossen, die Gitterstäbe nie mehr loszulassen. Er konnte sich nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern. Ihm war jedoch bewusst, dass die Entscheidung von Angst getrieben worden war: Angst vor dem Fallenlassen, Angst vor der Dunkelheit unter ihm, vor dem Ungewissen. So klammerte er sich krampfhaft an die Stäbe des vergitterten Fensters. Er wusste nicht einmal mehr, weshalb er hier war. Aus dem Dunkel seiner Erinnerungen leuchtete hin und wieder ein kleiner Fetzen Licht.
Eine Zelle war da gewesen, eine Tür, dahinter ein dunkler Gang mit einem kleinen Licht am Ende. In sehr seltenen Augenblicken glaubte er, diesen Gang schon ein paar Mal betreten, das Licht gesucht zu haben. Und dann war da ein unsagbarer Schmerz, der sein Gedächtnis zu verriegeln schien.
Zwei Wächter waren am Ende des Ganges gewesen: ein Mann und eine Frau. Oft hatten sie ihn gehindert, den Gang zu verlassen und an die Sonne zu treten. Aber sie hatten ihn auch behütet und versorgt. Nie war deshalb sein Wunsch, sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen, so stark gewachsen, dass er es auch nur einmal ernsthaft versucht hätte. Aber diese Erinnerung war sehr tief in ihm versteckt, zeigte sich nur manchmal in hellen Nächten, wenn er träumte. Und diese Träume vergaß er immer schnell.
Irgendwann hatte er etwas entdeckt: Wenn er mit aller Kraft hochsprang zu dem Fenster an der Wand und die Gitterstäbe zu fassen bekam, dann konnte er sich an guten Tagen daran hochziehen. Manchmal gelang es ihm, seinen Kopf zwischen die Gitterstäbe zu drängen und einen Blick auf die Sonne zu erhaschen. Wie glücklich er gewesen war, als er das zum ersten Male schaffte!
Seitdem hatte er sich oft an die Stäbe gehängt, Kraft gesammelt und versucht, die Sonne zu sehen. Wenn er stark genug gewesen war, hatte er es geschafft. Und seitdem hatte er im Grunde nur für diese kurzen Augenblicke gelebt, in welchen er eine Ahnung fühlte von Sonne und Freiheit. Da es ihm an Essen und Trinken selten mangelte, ihm sonst nichts zu fehlen schien, hatte er sich inzwischen mit diesem Leben abgefunden.
Dann, eines Tages, hatte er gespürt, dass ihn die Kraft verließ. Seine guten Tage waren seltener geworden; er hatte sich gefürchtet, nie wieder einen Blick auf die Sonne werfen zu können. So hatte er sich also entschieden, beim nächsten Mal die Gitterstäbe nicht mehr loszulassen.
Mit der Zeit hatte er vergessen, was vorher gewesen war, erinnerte sich kaum an die Zelle, den Gang und die Wächter. Unbestimmte Ängste und Befürchtungen hatten sich in ihm eingenistet. Und ab irgendeinem Zeitpunkt konnte er sich, selbst wenn er gewollte hätte, nicht mehr fallen lassen. Zu groß war die Angst, mühsam vergessene Enttäuschungen wieder erleben zu müssen.
Nun hing er an den Stäben, festgeklammert, verkrampft und voller Furcht. An starken Tagen gelang es ihm immer noch, sich hochzuziehen und sein Gesicht zwischen die Stäbe zu pressen. Aber es wurde mit zunehmendem Alter seltener, erfüllte ihn aber dennoch mit Freude und Wehmut.
Irgendwann vergaß er die Wächter, die Zelle, den Gang und das Licht an seinem Ende endgültig. Für ihn gab es nur noch einen winzigen Lebensbereich: das Fenster, die Gitterstäbe und die immer selteneren Blicke auf die Sonne. So starb der Mann, wie er seine letzten Jahre verbracht hatte: festgeklammert an dem, was er für wichtig und lebenswert gehalten hatte.
Als man ihn irgendwann einmal fand, verstand niemand, was da geschehen war. Die Wächter waren längst verschwunden, die Tür der Zelle offen, der Weg in die Freiheit nicht leicht, aber durchaus zu bewältigen. Der Mann hätte nur loszulassen brauchen, sich nur fallen lassen.
Vielleicht hätte er sich verletzt, vielleicht auch die Tür erst nach langem Umhertasten in der Dunkelheit gefunden. Auch der dunkle Weg durch den langen Gang hätte ihm sicherlich Abschürfungen beigebracht, ihn manchmal geängstigt.
Aber er hätte jederzeit die Zelle und den Gang verlassen können; niemand hätte ihn gehindert. Weil er den Mut zu einem Versuch nicht gefunden hatte, war es ihm niemals möglich gewesen, sein Leben zu ändern. Er hätte nur hinauszugehen brauchen, hinaus in die Freiheit – und hätte in der Sonne leben können.
Heinz Körner (1947-2024). Deutscher Schriftsteller.
Das ist sehr berührend, vielen Dank für diesen Text.
Ich erinnere mich dabei an ein inneres Bild: Ein Käfig-Vogel. Warum? Weil der Käfig zur eigenen Haut geworden ist und es diesem freien Wesen nicht möglich ist zu fliegen, selbst wenn die Tür offen steht.
Danke diese Geschichte hat mich tief berührt ja wir Menschen neigen dazu uns an alten Gedanken und Vorstellungen zu klammern ohne das uns bewusst ist das diese uns vom wahren Leben trennen wir leben in der Vergangenheit wünschen uns Dinge zurück die es schon längst nicht mehr gibt wir haben Angst das alles loszulassen und zu leben einfach im Vertrauen das das Leben lebenswert und lebendig ist wenn wir uns dem öffnen liebe Grüße Manuela
Sehr tiefgreifend, Astrid …
es gibt kaum etwas zu sagen, das etwas ergänzen könnte. Nur soviel: Mein “Daumen hoch” sagt eigentlich gar nichts, denn es kann das Mitfühlen für Wesen in dieser Situation, und ich zähle mich auch dazu, nicht ausdrücken. Es braucht sehr mitfühlende Andere, zu erkennen, das mein als einzig fühlbarer Halt in Wahrheit Gitterstäbe geworden waren …