E. Fromm: Der unglückliche Mensch

Die Normalsten sind die Kränksten, und die Kranken sind die Gesündesten – mit diesen Worten bringt der deutsche Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) seine Diagnose der Befindlichkeit von Menschen in der Industriegesellschaft auf den Punkt. Hier gibt es einen kleinen Einblick in seine Überlegungen.
Der vollständige Text zum Hören ist u.a. unter folgendem Link zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=EAuliy6_v2g

Sie schreiben einmal: „Wir leben in einer Gesellschaft von notorisch unglücklichen Menschen.“ Wie kommen Sie zu dieser eigentlich ungeheuren Aussage?

Ja, für mich ist die gar nicht ungeheuer, sondern im Gegenteil: Wenn man nur die Augen aufmacht, sieht man das. Das heißt, die meisten Menschen geben vor, für sich selbst auch, dass sie glücklich sind. Weil nämlich, wenn man unglücklich ist, dann ist man … im Englischen würde man sagen ein „Fail“, dann ist man ein Misserfolg. So muss man also die Maske des Zufriedenseins, des Glücklichseins tragen, denn sonst verliert man den Kredit auf dem Markt, dann ist man ja kein normaler Mensch … und kein tüchtiger Mensch. Aber: Sie müssen sich doch nur die Menschen ansehen! Braucht man ja nur zu sehen, wie hinter der Maske eine Unruhe, Gereiztheit, Ärger, Depressionen, Schlaflosigkeit, Unglücklichsein … das, was die Franzosen genannt haben: die Malaise, liegt. Man hat ja schon am Beginn des Jahrhunderts von der Malaise du siècle gesprochen. Das, was Freud genannt hat: Das Unbehagen in der Kultur. Aber es ist gar nicht das Unbehagen in der Kultur, es ist das Unbehagen in der bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen zum Arbeitstier macht, und alles, was wichtig ist: die Fähigkeit zu lieben, für sich und für andere da zu sein, zu denken, nicht ein Instrument zu sein für die Wirtschaft, sondern der Zweck alles wirtschaftlichen Geschehens.
Das macht eben die Menschen so, wie sie sind, und ich glaube, es ist eine allgemeine Fiktion, die die Menschen miteinander teilen, dass der moderne Mensch glücklich sei. Aber diese Beobachtung, die hab nicht nur ich gemacht, das können Sie bei einer ganzen Reihe von Leuten finden, und man braucht nur selbst die Augen aufzumachen und sich nicht vom Schein trügen zu lassen.

Ja, sich nicht vom Schein trügen zu lassen, das haben Sie ja gemacht als Therapeut. Sie greifen ja bei dieser Aussage auf Ihre Erfahrung als Therapeut zurück.

Ja. Genau. Ich habe seit 40 … seit 1926 analysiert und viele hundert von Fällen von jüngeren Kollegen überwacht und kontrolliert, und das sind empirische Dinge, die sich herausstellen, denn die Leute, die als Patienten kamen, die kamen ja gewöhnlich, weil sie irgendein kleines Symptom hatten … oder dieses oder jenes … Und wozu ich sie erst aufwachen musste, war, dass sie tief unglücklich sind, dass sie mit dem Leben unzufrieden sind, das Leben keinen Sinn macht. Und dass daraus erst die verschiedenen Symptome kommen, nämlich Versuche, dieses Unglücklichsein zu kompensieren.

Heißt das auch, dass die Menschen, die wir gemeinhin als „normal“ bezeichnen, dass die von Ihrem Standpunkt aus krank sind?

O ja! Die Normalsten sind die Kränkesten, und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz Ernst damit. Das ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie dadurch, durch diese Friktion, Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt. Wir wissen ja, wenn der Mensch keinen Schmerz empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen, das heißt die normalen, die sind so angepasst: Die haben so alles, was ihr Eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, so Instrument, so robothaft geworden, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden. Das heißt, ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Hass – das ist schon so verdrängt oder sogar so verkümmert, dass sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie bilden.

Sehen Sie die Ursachen dafür in unserer Gesellschaft?

Nun, die Ursachen scheinen mir ganz offenliegend zu sein. Unsere Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Prinzip, dass das Ziel des Lebens ist: die größere Produktion. Als Kompensation und auch als Notwendigkeit die größere Konsumtion. Und dass die Wirtschaft das ist – und der Fortschritt der Wirtschaft, der Fortschritt der Technik – das ist das, wofür wir leben. Nicht der Mensch. Was dem Menschen nützt, das interessiert wenig, wenn man darüber denkt, was das Ziel ist, worauf wir hinauslaufen. Sogar nicht einmal, was dem Menschen schadet, spielt eine Rolle. Viel – das ist ja notorisch – viel von unseren Anzeigen und Reklamen preist Dinge an, die ausgesprochen tödlich und schädlich sind …
Wenn es um den Profit geht, hat man kein Gewissen, Menschen zu schaden, und wenn man ein noch drastischeres Beispiel nehmen will, dann braucht man ja nur an die Profite der Rüstungsindustrie, an den Verkauf von Rüstung durch die ganze Welt, an alle Menschen, sogar der atomischen Energie, zu denken, und was den Menschen dabei geschieht, ist ganz gleichgültig. Das hat aber erst im industriellen Zeitalter angefangen. Im Mittelalter war es eben nicht so. Da war, und in den meisten Kulturen war es nicht so: Die Kultur diente dem Menschen. Und die Wirtschaft war ein Zweck. Freud hat selber eine der schärfsten Kritiken der bürgerlichen Gesellschaft gegeben, ohne es zu wissen, nämlich: Die bürgerliche Gesellschaft ist eine neurotische Gesellschaft, weil sie beherrscht wird vom Prinzip des Habens, des Ansammelns, Akkumulierens, des Behaltenwollens, des Geizes letzten Endes …

Daraus würde doch aber folgen, dass die Industriegesellschaft die eigentlich unterentwickelte Gesellschaft ist.

Menschlich ist sie die unterentwickelte Gesellschaft, sicher … Wenn ich mir ansehe eine Gesellschaft von einem Stamm in Afrika oder noch von einem urwüchsigen Bauernleben, wo es das noch gibt … Ja, die sind doch menschlich viel höher entwickelt als wir …

Erich Fromm (1977)

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Antworten

  1. Sehr zutreffend beschrieben und schmerzhaft wahr – mehr denn je. Doch wer ist bereit diesen Schmerz zu fühlen? Wir haben die Erinnerung an die, die wir in Wahrheit sind größtenteils verloren. Unsere wahre Natur ist hochschwingend, LIEBE und Freude in sich. Es braucht eine bewusste Entsagung im Außen um wieder dorthin zu finden, eine Befreiung von Fehl-Konditionierungen und eine Heilung unserer tiefen Traumata. Das benötigt viel Mut und Durchhaltevermögen und doch ruft die Zeit mit einem lauten Schrei danach. Hören wir hin und schauen genau. In LIEBE, Mona.