Sonnensternkind Sina

Auf dem Fußboden ausgebreitete Bücher dienen Marika als Ruhestätte in der am dunkelblauen Himmel heraufziehenden Abenddämmerung, welche violett und rot leuchtet. Ein Geruch von Wacholder und Walnuss erreicht Marikas Nase.

Inmitten ihrer Bücher und auf dem Rücken liegend atmet sie diesen Geruch ein und atmet alle unnötigen Gedanken des Tages aus. Ihre Augen sind noch geöffnet und auf das Dachgewölbe aus Eichenholz und Lehm gerichtet. Der Lehm wurde schon vor langer Zeit mit weißer Kreide abgedeckt und darauf tummeln sich unter anderem in bunten Farben neun Sternenkinder. Feiner Sternenstaub umgibt alle Neun.

Marika schließt abwechselnd das linke und das rechte Auge. Somit entsteht ein Farbenspiel von besonderer Schönheit. Die Sternenkinder beobachten allerdings auch Marika. Ihr Blick wandert nun über das Dachgewölbe entlang und bleibt genau an dem Bildnis von einem Mann und einer Frau, welche in weite Umhänge gehüllt sind, haften. Beide sehen ihrem Papa und ihrer Mama ähnlich. Sie sind anmutig, aufrecht und mit Geschmeidigkeit gemalt. Es scheint, als ob Marika genau in der Mitte von ihrer Mama und ihrem Papa ihren Platz gewählt hat. Allerdings hat sie im Moment eine riesige Wut auf ihre Eltern. Immer sorgt Papa dafür, dass jemand auf sie aufpasst. Sie soll brav bleiben!

Ihre Mama achtet darauf, dass sie alles (wirklich alles) „richtig“ macht. Da ist es sicher verständlich, dass Marika, sobald es ging, das Weite suchte. Sie will auch endlich Abenteuer in der weiten Welt, die hinter dem Gartentor liegt, erleben. In ihren Büchern hat sie schon viele Ideen dafür gefunden und ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Noch kann sie die Buchstaben nicht deuten, jedoch haben die Bilder ihr schon neue Welten gezeigt und sie an fremde Orte gebracht. Außerhalb ihres Heimes und Hofes gilt es jetzt für sie, ihre Beine zu bewegen und Neues zu entdecken. Jeden Tag gibt es nur noch dasselbe an Erlebnissen und Marika findet sich nun wirklich alt genug für Abenteuer und Reisen. Langsam nähert sich bei ihren Gedanken ihre Freundin – das blaue Sonnensternkind mit dem Namen Sina. Leise lässt sich Sina auf dem Bauchnabel sinken und Marika schließt die Augen und träumt vom Frühling.

Die Sonne frohlockt im Frühling und sendet sanft ihre goldenen Strahlen in den Garten, das Haus und insbesondere in die Richtung der Rosenstöcke. Rosarote, dunkelrote, weiße und blaue Rosenblüten recken sich der Sonne entgegen.

Mit der Geburt von Marika pflanzte ihr Papa einen kleinen zarten Rosenstock, welcher blaue Rosen mit 33 Blütenblättern tragen sollte. Er hatte überall ein Versprechen verkündet: „Wenn der Rosenstock und Marika die gleiche Größe haben, dann darf Marika auf Reisen gehen.“ Nur wie sollte dies jemals eintreffen, wenn sie wächst und wächst, und der Rosenstock im Frühling und Herbst gestutzt wird, und eine sicher einzigartige und herzerfüllende Statue den Weg der Sonnenstrahlen versperrt? Sie fand gemeinsam mit dem Gärtner einen besseren Platz für den Rosenstock mit den blauen Rosen. Welch ein Glück für sie. Gemeinsam und sorgsam gingen beide ans Werk und legten sanft und achtsam die Wurzeln frei, trugen den Rosenstock an den neuen Platz im Garten, gruben ihn sorgsam in die Erde ein und gossen seine Wurzeln.

Der Gärtner mit dem Namen Hans hatte schon die Gestalt eines freundlichen Bären, voller Stärke und Gelassenheit. Die interessanten Geschichten über Rosen, die anderen Pflanzen des Gartens und über ferne Länder und das Universum hörte Marika gern. So erzählte er auch über die Statue, welche eine Rose darstellte. Diese Statue einer Rose wurde aus dem Stein Ohrid gefertigt. Ein Geheimnis gefüllt mit Romantik umgab diese Statue. Aus diesem Grund war es Hans und Marika wichtig, dass die Rose aus Ohrid und die blaue Rose nahe beieinander und doch mit dem allem, was sie für sich brauchten, ihren Platz hatten. So fand die Rosenstatue ihren Platz im Schatten einer alten Eiche und in ausreichender Entfernung dem blauen Rosenstock gegenüber. Nun hatten beide Rosen einen Platz, welcher für sie angenehm war, und sie konnten beide ihre Schönheit über den Garten miteinander verbinden. Dazwischen breitete sich eine bunte Wiese aus, mit Blumen, Gräsern und Kleeblättern.

Bei so manchem Picknick auf einer Decke mit Marmeladenbrötchen und Gänseblümchentee erfuhr Marika die Herkunft und die Geschichte der Rosen. In dem fernen Lande China dienen sie seit Jahrtausenden als Lebensmittel. Seit sie dieses erfahren hatte, probierte sie schon viele Rezepte mit Rosen aus. Zum Beispiel Rosentee, Rosenmarmelade, Rosenhaferbrei und Rosennudeln. Gemeinsam mit der Köchin verbrachte sie dabei viel Zeit in der Küche. Es gab dabei viel Heiterkeit und Lieder.

Marikas Blick gleitet nun aus dem Gewölbe heraus in die Richtung der Rosenstatue aus Ohrid. Hier setzt sich nun Sina nieder und sendet einen Lichtstrahl zur blauen Rose. Die Sonne – Sinas Mama – kitzelt derweil alle anderen Blumen im Garten mit ihren Sonnenstrahlen. Übrigens hat Sina genau denselben Farbton wie die blaue Rose.

Gemeinsam wollen Marika und Sina nun auf ihre erste gemeinsame Reise gehen. Aus dem Daheim herausgehen.

Das Köfferchen von Marika steht bereit und ist mit einem Buch, einem Teddy, einem Kleid, Haarbürste, Seife, Handtuch, Brot und Rosenmarmelade gefüllt. Sina nimmt ihren Platz auf dem Haarreif in Marikas Haaren ein. Jeder Mensch, der ihnen begegnet, wird von dem Haarreif in eine fröhliche Stimmung versetzt werden. Oh, so viele Wünsche und Ideen haben beide gemeinsam entwickelt. Sie wollen die Welt verzaubern und sich selbst verzaubern lassen. Durch das Tor ist Marika geschritten und setzt ihre Füße auf einen Weg aus Kieselsteinen und am Rand gesäumt mit Beifuß, Klatschmohn und Kastanienbäumen. Noch sind ihre Schritte von leichter Zaghaftigkeit und Wehmut begleitet. Jedoch bringen ihre Neugier und Begeisterung ihre Füße weiter voran. Während dessen lässt sich Sina sanft und entspannt auf dem Haarreif hin und her wiegen.

Der Weg führt einen kleinen Berg hinauf und bringt beide an ein altes Anwesen mit einer Mauer, welche mit Edelsteinen verziert ist und ein Tor aus Holz mit Schnitzereien verziert. Hinter dem Tor sind ein großes Gebäude und einige kleinere Häuser zu sehen. Sie wurden aus Lehm gebaut und mit einer gelben Farbe bestrichen. Auf einigen Wänden sind, wie in ihrem Heim, kleine Bilder mit Menschen und Tieren.

Leise und andächtig setzt Marika ihre Füße auf die andere Seite des Tores und wird von goldenem Glück umgeben. Sie hat ihre Augen, Mund und Ohren weit geöffnet. Sie kann sogar den Flügelschlag der Schmetterlinge hören. Langsam geht sie mit Sina an eine große verzierte Holztür und öffnet diese. Vorsichtig schaut sie in das Gebäude hinein und erlebt eine Überraschung.

Genau wie in ihrem Heim sind an den Wänden Bilder und in das Dachgewölbe neun kleine Sonnensterne gemalt. Marika möchte ihre Freundin darauf hinweisen, jedoch ist diese schon aufgeregt in die Richtung des Dachgewölbes geflogen und sendet ihre blauen Lichtstrahlen in den Raum. Mit dem Köfferchen in der Hand tanzt Marika den Lichtstrahlen hinterher und lacht schallend in den Raum hinein.

Halt, plötzlich versteckt sich Sina wieder in dem Haarreif und Marika bleibt wie versteinert mit ihrem Köfferchen in der Hand stehen. Sie hören Schritte näherkommen und ihre Herzen schlagen schneller. Durch eine andere Tür treten zwei Männer in dem Raum. Der eine ist schon etwas älter und hat einen langen weißen Bart. Der Jüngere hat einen kurzen Bart und beide haben klare blauen Augen, mit denen sie Marika etwas streng ansehen. Sina versteckt sich ganz tief in den Haaren von Marika.

„Kleines Mädchen, was führt dich an unseren Ort?“, kommt es aus dem Mund des älteren Mannes und bekommt natürlich eine verärgerte Antwort: „Ich bin nicht klein!“ Sofort reckt sie sich noch mehr in die Höhe.

„Still, still, junge Dame. Wir reden hier alle leise miteinander.“ Der ältere Mann sagt dies mit einer warmherzigen Stimme, und fragt, woher sie denn komme und wohin sie denn gehen möchte. Etwas ruhiger stellt Marika ihr Köfferchen ab und erzählt ihre Geschichte und ihre Wünsche. Derweil geht der jüngere Mann in eine Nische und holt Teegläser gefüllt mit rotglänzendem Tee in denen Rosenblätter schwimmen. Diese Erfrischung kommt genau zur rechten Zeit. Denn Marika ist von ihrer ersten Reise und dem Erzählen erschöpft.

„Ich bin Naum und dies ist Kliment, und wir schreiben hier viele alte Texte und Geschichten in eine neue Sprache um. Das nennt man Übersetzten. Du befindest dich hier in einer Schule, wo Lesen und Schreiben gelehrt wird.“ Wie glücklich und zugleich ein bisschen ängstlich fühlt sich Marika auf einmal. Sie muss sich anstrengen, um ruhig stehen zu bleiben und weiterzuatmen. Schreiben und Lesen, das wollte sie doch endlich lernen und tausend Fragen will sie stellen. Ihr Kopf pocht vor Aufregung und Sina muss sich am Haarreif festhalten, damit sie nicht herunterfällt.

Beide Männer verstehen ohne Worte, was in Marika vorgeht. „Willst du einmal in unsere Bibliothek und Schreibstube hineinsehen?“, dringt als Frage an ihre Ohren. Natürlich will sie. Am liebsten möchte sie gleich hier an diesem Ort bleiben und jeden Tag in die Schule gehen. Ihr platzen die Worte aus dem Mund heraus: „Ich möchte gerne jeden Tag in die Bibliothek, die Schreibstube, den Garten und …“ Sie wird ganz rot im Gesicht.

Marika greift nach ihrem Köfferchen, stellt sich bereit vor die beiden Männer und sieht sie flehend an. Der ältere Mann lächelt sie an und nickt in die Richtung von Kliment, so dass dieser ihre Hand nimmt und sie in die Bibliothek führt. Bücher und Schriftrollen liegen wohlgeordnet in Regalen aus Eichenholz und ein Duft von Wacholder und Zeder liegt in dem Raum. Bis unter die Decke reichen die Regale und man kann die obersten Reihen nur mit einer Leiter erreichen. Nun ja, was gibt es zu sagen? Stunde um Stunde vergehen und Kliment zeigt und erklärt ihr die Schrift, wie man schreiben lernen kann, lässt sie Bücher anschauen und zeigt ihre uralten Schriftrollen.

Es gibt hier Bücher und Schriftrollen, welche schon tausende von Jahren alt sind und in anderen Sprachen in anderen Ländern aufgeschrieben wurden. Kliment und Naum kümmern sich darum, dass auch Menschen in diesem Land diese Bücher und Schriftrollen verstehen können.

Fasziniert von alle dem bemerken Marika und Sina gar nicht, dass die Sonne sich schlafen legt.

Am Himmel erscheint ein violett gestreiftes Abendrot und durch die Tür treten Mama und Papa von Marika in die Schule ein und kommen mit Naum in die Bibliothek.

Gemeinsam gehen sie alle in einen großen Raum, wo schon die Tafel für das Abendbrot gedeckt ist. Marika isst leise und lauscht den Unterhaltungen der Erwachsenen. Sina ist schon in den Haaren von Marika eingeschlafen.

„Es wird Zeit für uns, heimzugehen“, sagen ihre Eltern mit Zärtlichkeit und Liebe. So anders als Marika sonst gefühlt hat.

Sie nimmt ihr Köfferchen und verabschiedet sich mit einer langen Umarmung von Kliment und Naum.

Die Eltern, Naum und Kliment verabschieden sich herzlich voneinander und Marika wird vorsichtig auf den Esel gesetzt, welcher sie nach Hause trägt. Ihre Mama und Papa jeweils auf einer Seite neben ihr laufend.

Daheim legt sie sich auf eine Decke auf der Wiese genau zwischen der Rose aus Ohrid und der blauen Rose. Sina strahlt noch einmal kurz auf ihrem Haarreif und fliegt ihrer Mama – der Sonne – in den Kosmos hinterher.

Nach einer Weile geht Marika neben den blauen Rosenstock und vergleicht die Größen von ihnen beiden. Sie ist genauso groß wie der Rosenstock!

Leise erscheinen neben ihr Mama und Papa. „Möchtest du ab morgen bei Kliment und Naum in die Schule gehen?“

Marika kann nichts sagen, jedoch ihr Gesicht zeigt ihre Antwort auf diese Frage. Sie umarmt ihre Eltern und lässt sich von ihnen in ihr Bett tragen. Ihr Köfferchen wird nun jeden Tag gepackt, und Sina setzt sich frühmorgens in die Haare von Marika. Wenn sie in der Schule gerade nicht schreibt oder liest, dann wird getanzt, gespielt, gelacht und mit den Jahren sich auch verliebt. Nach den Jahren des Lesen- und Schreibenlernens nimmt sie ihr Köfferchen und geht mit Kliment auf Reisen, bis sie gemeinsam an einem Ort ein Heim für ihre Familie finden und gründen.

Beate Weikert

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