Ein kleines Mädchen und eine ungewöhnliche Eigenschaft

War es vielleicht so unglaublich klug, dass es jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand es immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte es weise und gerechte Urteile fällen?
Nein, das alles konnte es ebensowenig wie jedes andere Kind.
Konnte es dann vielleicht irgendetwas, das die Leute in gute Laune versetzte? Konnte es zum Beispiel besonders gut singen? Oder konnte es irgendein Instrument spielen? Oder konnte es am Ende gar tanzen oder akrobatische Kunststücke vorführen?
Nein, das war es auch nicht.
Konnte sie vielleicht zaubern? Wusste sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonstwie die Zukunft voraussagen?
Nichts von alledem.
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören.
Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.
Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.
So konnte Momo zuhören.
[…]
Momo hörte allen zu, den Hunden und Katzen, den Grillen und Kröten, ja sogar dem Regen und dem Wind in den Bäumen.
An manchen Abenden, wenn alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch lange allein in dem großen steinernen Rund des alten Theaters, über dem sich der sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach auf die große Stille.

Dann kam es ihr so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in die Sternenwelt hinaushorchte. Und es war ihr, als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging.
In solchen Nächten hatte sie immer besonders schöne Träume.

Und wer nun noch immer meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.

Auszug aus: Michael Ende: Momo (1973)

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Antworten

  1. Dankeschön für das neue Entdecken von Momo. Ja, jeder möchte gehört werden. Viele schlimme Dinge würden sicher nicht passieren, wenn sich alle achtsam zuhören würden. Es wäre schön, wenn diese Art der Kommunikation schon in der Schule praktiziert und geübt werden könnte. Auch Kindern wird oft nicht zugehört oder besser gesagt, auch sie möchten Empathie erfahren.