Wenn es Liebe ist …

Es war einmal – so beginnen sie, die Märchen, die so viel erzählen.

Es war einmal – so beginnt auch die Geschichte eines alten Mannes, der auf sein Leben zurückblickt, auf ein Leben, in dem es so viele traurige und schwierige Zeiten gab.

Es war einmal, begann er zu erzählen, und sein Enkelsohn auf seinem Schoß hörte gespannt zu, wie der Großvater begann, seine Geschichte – seine Lebensgeschichte – zu erzählen. Draußen war es schon dunkel geworden, die Schneeflocken tanzten vom Himmel. Bitterkalt war es.

„Bitterkalt war es damals, als ich als junger Mann nach dem Krieg mit zwei Kumpels den langen Heimweg antrat. Lange schon war der Krieg zu Ende, aber wir waren noch immer in russischer Gefangenschaft. Viel später haben wir erst erfahren, dass wir drei vergessen wurden – einfach vergessen. Es dauerte so unglaublich lange, es war ein so mühsamer, weiter Weg und oft – sehr oft – dachte einer von uns dreien daran, aufzugeben. Sich einfach irgendwo in einen Graben zu legen, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Aber immer wieder war einer von uns zuversichtlich, und so stärkten wir uns über all die Jahre wieder aufs Neue. Das ständige Hungergefühl und die immer anwesende Kälte waren das Schlimmste in all der Zeit. Den weiten Weg, den wir vor uns hatten, konnten wir nur gehen, weil wir an das dachten, was uns zu Hause erwartete. Davon wurden wir getragen – vom Glauben an unser Leben, das wieder beginnen würde, sobald wir unsere Heimat erreichten.

Und irgendwann war der Tag gekommen, als ich an der Türe stand und klopfte. Ich weiß heute nicht mehr, was lauter zu hören war, das Klopfen an der Tür oder das Klopfen meines Herzens. Gleich, dachte ich, gleich würde sie aufmachen. Meine Verlobte. Unsere Hochzeit stand schon vor der Tür, aber da bekam ich meinen Einrückungsbefehl, und so wurde nichts daraus. „Ich werde auf dich warten“, hatte sie gesagt, als sie mich zum Abschied küsste. „Ganz bestimmt werde ich auf dich warten.“ Auch in ihren Briefen, die in den ersten Monaten kamen, stand das geschrieben. Irgendwann aber blieben sie aus, die Briefe. Aber ich hielt daran fest. Und das war mein Überlebenswille – heimzukommen, zu meiner Verlobten, sie in den Arm zu nehmen und sie endlich zu meiner Frau zu machen. Jede Nacht träumte ich davon. Jede Nacht sah ich ihr Bild vor mir. Dieses fröhliche sorglose Gesicht und die langen Haare, die so wundervoll in der Sonne glänzten. Und jede Nacht schlief ich mit einem Lächeln auf den Lippen ein, weil ich wusste, dass es irgendwann einmal so sein würde. Irgendwann einmal würden wir nicht nur in meinen Träumen miteinander verbunden sein.

Da stand ich nun – vor der Tür, die sie gleich öffnen würde. Um den Hals würde sie mir fallen und all die Last wird von mir abfallen, ich würde lernen, die Kriegsjahre zu vergessen. Eine schöne Zukunft lag vor uns. Meine Hände begannen zu zittern, als ich sah, wie sich die Türklinke bewegte, die Tür sich öffnete, und eine Frau vor mir stand. Es war meine Lisa. Sie hatte sich zwar verändert, hatte nicht mehr diesen sorglosen mädchenhaften Blick, sie trug ihre Haare streng zurück, hatte auch nicht mehr diese zierliche Figur. All das störte mich nicht, ich war ja auch nicht mehr der junge Mann, der ich einst war, bevor ich weggehen musste, ich war abgemagert bis auf die Knochen, meine Haare waren nicht mehr so dicht wie einst, und erste Fältchen zierten mein Gesicht. Was mich aber erschreckte, war der Ausdruck ihrer Augen. Er hatte etwas Fremdes, Kaltes, das ich nicht kannte. „Ich bins, der Hans“, sagte ich. Und was dann kam, war das Schrecklichste, was ich je erlebt hatte. Die Kriegsjahre und die Jahre der Gefangenschaft waren nicht so schlimm für mich wie das, was noch vor mir lag. Sie fragte mich, was ich nach all den Jahren hier mache. Da erinnerte ich sie, dass ich ihr versprochen hatte, wiederzukommen, sie zu heiraten, da sei ich nun. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wich vor mir zurück. Wie durch einen dichten Nebel hindurch hörte ich ihre Stimme, die mir sagte, dass sie verheiratet sei und auch ein Kind hätte. „Aber du wolltest doch auf mich warten. Du hast es mir doch gesagt, Du hast es mir doch geschrieben“, flehte ich sie an.

Da stand ich nun – einsam und allein, und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Die ersten Tage schlief ich in einem Heuschober. Bei einem Bauern verdiente ich mir als Erntehelfer ein bisschen Geld. Über den Winter bot mir der Pfarrer die Stelle als Mesner an. Körperlich gings mit mir wieder bergauf, ich nahm rasch wieder zu und war beinah wieder der fesche junge Mann von einst. Mein gebrochenes Herz jedoch konnte nicht heilen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich meine Lisa immer wieder sah – sonntags in der Kirche. Da kam sie immer in Begleitung ihres Mannes, und jedes Mal war es ein bisschen wie sterben, sie so zu sehen. Und ganz besonders schlimm war es, wenn sie sich umarmten. Manchmal dachte ich, der ganze Ort müsste den Schrei meines Herzens hören. Nie wieder haben wir mehr miteinander gesprochen. Manchmal trafen sich unsere Blicke, und diese Blicke veränderten sich. Anfangs dachte ich, ich bilde mir das nur ein, weil ich mir nichts sehnlicher wünschte, aber ich empfand sie immer freundlicher, zärtlicher, gefühlvoller.

Die Zeit verging. Nach dem Winter blieb ich beim Pfarrer in Diensten, und hatte noch jede Menge Nebenjobs angenommen. Ich arbeitete vom Morgengrauen bis spät in die Nacht. Ich gönnte mir keine ruhige Minute, um nicht nachdenken zu müssen. Ich lebte nur mehr für meine Arbeit. So ging es – vom Frühjahr, über den Sommer bis hinein in den Herbst.

Und dann stand Weihnachten vor der Tür. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel. Tagelang schneite es schon. Der Weg zur Kirche würde für viele sehr beschwerlich sein, aber alle würden ihn auf sich nehmen, um an diesem Abend bei der Mitternachtsmette dabei sein zu können. Es war für uns alle immer etwas ganz besonders. Und oft – so erzählten sich die alten Leute – wurde das, was man sich in dieser Stillen Nacht wünschte, wahr. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als meine Lisa.

Ich machte mich gerade fertig, um von meiner Stube aus hinüber in die Kirche zu gehen – ich musste noch alle Kerzen anzünden, alles für den Gottesdienst vorbereiten, da klopfte es plötzlich an der Tür meiner kargen Behausung. Der Pfarrer, dachte ich mir, der Pfarrer wird schon nach mir schicken. Ich ging hin zur Tür, öffnete sie – und da stand sie. Eingehüllt in einen dicken grauen Mantel, eine Haube auf dem Kopf, einen gestrickten Schal um den Hals, und an der Hand hielt sie ihren Jungen, der mich ganz verschreckt anschaute. Beide waren voller Schnee und schienen ziemlich durchgefroren zu sein.

Ich hielt die Tür noch immer geöffnet, den Mund weit offen, und war nicht fähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Sie schaute mich an, dann senkte sie ihren Blick. Leise, aber klar verständlich, sagte sie: „Hans, ich habe mich von meinem Mann getrennt. Er hat mich gehen lassen. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, aber damals, nach deinem Fronturlaub, als ich merkte, dass ich ein Kind von dir erwartete, da hat mich der Schorsch geheiratet. Ich brauchte einfach einen Vater für mein Kind. Du weißt doch, wie sie sind, die Leute vom Dorf. Ich hab so viele Jahre versucht, dich aus meinen Gedanken zu verbannen, ich hab versucht, meinem Mann eine gute Frau zu sein. All die Fröhlichkeit, die ich einst in mir trug, war mit dem Tag meiner Hochzeit Vergangenheit. Und dann – nach all der langen Zeit – standst du da. Wie aus dem Nichts bist du plötzlich aufgetaucht. Jeden Tag ein Stückchen mehr kam zurück von den Gefühlen, die ich einst für dich hatte, bis ich sie nicht mehr länger verdrängen konnte. Bitte Hans, wenn du mich noch willst, wenn du deinen Sohn und mich noch willst – hier sind wir.“

Ich hatte es inzwischen geschafft, meinen Mund wieder zu schließen. Ich nahm die beiden an der Hand, und führte sie in meine kleine Kammer, ließ sie neben dem Ofen Platz nehmen, gab ihnen heißen Tee zu trinken, und sagte, dass es für mich nichts Selbstverständlicheres und nichts Schöneres auf der Welt geben kann, als meine – MEINE – Familie zu mir zu nehmen.

Gemeinsam, Hand in Hand, verließen wir die Stube, gingen durch den tiefen Schnee auf die Kirche zu. Der letzte Weg zur Kirche war mit Fackeln ausgesteckt. Viele Dorfbewohner waren schon am Kirchplatz versammelt. Hand in Hand schritten Lisa, der Junge und ich den ausgetretenen Weg entlang den Fackeln, entlang der Menschen, die plötzlich alle verstummten und uns nachschauten, dem Kirchentor entgegen. Der Pfarrer stand schon vor dem Altar, als er uns reinkommen sah, lächelte er und nickte. Ich habe nie wieder in meinem ganzen Leben eine schönere Predigt wie zu dieser Weihnacht gehört. Er sprach von der Hoffnung, vom Vergeben und Verzeihen und von der Liebe. Von dem Glauben an unseren Herrgott, dass es immer wieder Prüfungen für uns Menschen geben wird, und wir, so schlimm, so schwer und so lang sie auch dauern mögen, niemals den Glauben verlieren sollen. Er sprach davon, unsere Herzen zu öffnen, aufeinander zuzugehen, einander zu verstehen, einander die Hände zu reichen. Er sprach auch von Josef, der seine Maria nicht im Stich gelassen hatte, obwohl er glaubte, dass sie von einem anderen ein Kind erwartete. Still und heimlich wollte er sich davon machen, und dennoch ist er geblieben, hat ihr die Hand gereicht, hat ihr Problem zu dem seinen gemacht und hat trotzdem nicht aufgehört, sie zu lieben. Solange die Liebe im Herzen lebt, solange werden wir sehen, wie wundervoll die Blumen blühen, wie herrlich die Sonne scheint, wie farbenfroh ein Regenbogen ist, wie kristallklar das Wasser talwärts rinnt, wie fröhlich ein Kinderlachen ist, wie majestätisch der Adler seine Kreise zieht, wie herrlich es ist, auf dieser Welt zu sein. Menschen, die verbittert sind, die, die Liebe nicht mehr spüren, die haben auch den Blick zur Schönheit, die Gefühle für die Liebe und die Wärme in ihren Herzen verloren.

Gemeinsam gingen Lisa – deine Großmutter, der Junge, der dein Vater ist – und ich nach Hause. Das Geläute der Glocken hörte man bis ans Talende – wie jedes Jahr. Und jedes Jahr danke ich Gott dafür, welch schönes Leben er noch für mich bereit gehalten hat. Mein größter Wunsch ging in dieser Heiligen Nacht in Erfüllung.

Nie habe ich aufgehört, deine Großmutter zu lieben, bis heute nicht, und nie hab ich aufgehört, die Schönheiten, die uns der liebe Gott geschenkt hat, zu genießen und zu schätzen. Ich habe nie aufgehört, etwas als selbstverständlich anzunehmen, ich habe immer dafür dem Herrgott gedankt.

Mein ganzes Leben lang!“

Angelika Premm

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Antworten

  1. Eine Geschichte, die alles in sich trägt, was das Leben mitbringt: Liebe, Enttäuschung, gefühlter Verlust, Geduld und niemals die Liebe aufgeben. Die Liebe siegt immer, wenn es echte Liebe ist. Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen. Danke dafür ❤️

    1. Liebe Eve,
      das freut mich sehr, das sie dir gefällt.
      Ich hab sie vor vielen Jahren geschrieben – und immer noch, wenn ich sie vorlese, kämpfe ich mit den Tränen und bin total gerührt. Dabei ist es “nur” eine Geschichte, die in meinem Kopf entstanden ist. Sie berührt mich immer wieder.
      Und ganz besonders freut es mich, dass sie heuer deine Weihnachtsgeschichte wird.
      Ganz liebe Grüße
      Angelika