Zeit ist Leben

Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.
Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt.
Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weitgestreckte und sorgfältig vorbereitete Pläne. Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne dass jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.
(…)
Täglich wurden es mehr, die damit anfingen, das zu tun, was sie „Zeit sparen“ nannten. Und je mehr es wurden, desto mehr folgten nach, denn auch denen, die eigentlich nicht wollten, blieb gar nichts anderes übrig, als mitzumachen.
Täglich wurden im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen die Vorteile neuer zeitsparender Einrichtungen erklärt und gepriesen, die den Menschen dereinst die Freiheit für das „richtige“ Leben schenken würden. An Hauswänden und Anschlagsäulen klebten Plakate, auf denen man alle möglichen Bilder des Glücks sah. Darunter stand in leuchtenden Lettern:

ZEIT-SPARERN GEHT ES IMMER BESSER!

Oder:

ZEIT-SPARERN GEHÖRT DIE ZUKUNFT!

Oder:

MACH MEHR AUS DEINEM LEBEN: SPARE ZEIT!

Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Zwar waren die Zeit-Sparer besser gekleidet als die Leute, die in der Nähe des alten Amphitheaters wohnten. Sie verdienten mehr Geld und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten missmutige, müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen. Selbst ihre freien Stunden mussten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war.
So konnten sie keine richtigen Feste mehr feiern, weder fröhliche noch ernste. Träumen galt bei Ihnen fast als ein Verbrechen. Am allerwenigsten aber konnten sie die Stille ertragen. Denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah. Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte. Aber es war natürlich kein fröhlicher Lärm wie der auf einem Kinderspielplatz, sondern ein wütender und missmutiger, der die große Stadt von Tag zu Tag lauter erfüllte.
Ob einer seiner Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig – im Gegenteil, das hält nur auf. Wichtig war ganz allein, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete.
Über allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern hingen deshalb Schilder, auf denen stand:

ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT!

Oder:

ZEIT IST (WIE) GELD – DARUM SPARE!

Ähnliche Schilder hängen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Geschäften, Restaurants und Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kindergärten. Niemand war davon ausgenommen.
Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. Man spart sich die Mühe, die Häuser so zu bauen, dass sie zu den Menschen passten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem zeitsparender, die Häuser alle gleich zu bauen.
(…)
Niemand schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.
Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.

(Michael Ende: Momo. Thienemann Verlag in Stuttgart 1973. S. 59-74)

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Antworten

  1. Hallo, ihr Lieben,
    zu diesem Thema fällt mir Siddhartha von H.Hesse ein, der die Zeit mit einem Fluß verglich, der überall zur gleichen “Zeit” war und wenn man sich die Zeit weg denkt, dann ist alles gut, dann ist alles gleichzeitig und alles vorhanden und dadurch auch vollkommen…das anzunehmen und zuzulassen ist eine große Aufgabe für mich, obwohl es eigentlich “nur” ein Loslassen zu sein scheint…

    mit zeitfreien Grüßen
    Erich