A. Brahm: Die Flügel des Mitgefühls
Wenn man sich Güte als eine wunderschöne Taube vorstellt, dann wird sie auf Flügeln der Weisheit getragen. Mitgefühl ohne Weisheit ist nie wirklich erhebend. Wie in der klassischen Geschichte, bei der ein Pfadfinder als gute Tat für den Tag eine alte Dame über eine belebte Straße führt. Dabei wollte die Dame die Straße gar nicht überqueren, doch sie war zu peinlich berührt, um es ihm zu sagen.
Diese Geschichte beschreibt leider nur zu gut, was man in unserer Welt alles unter Mitgefühl versteht. Wir gehen zu oft davon aus, dass wir genau wissen, was der andere braucht.
Ein junger Mann, der von Geburt an gehörlos war, besuchte mit seinen Eltern anlässlich einer gesundheitlichen Routineüberprüfung seinen Arzt. Aufgeregt teilte der Arzt den Eltern mit, er habe in einer Fachzeitschrift etwas über eine neue Behandlung für taube Menschen gelesen. Eine einfache und billige Operation könnte zehn Prozent der Menschen, die taub zur Welt gekommen waren, ein hervorragendes Gehör verschaffen. Er fragte die Eltern, ob sie sich darauf einlassen wollten und beide stimmten augenblicklich zu. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann zu den zehn Prozent gehörte, die nach der Operation perfekt hören konnten.
Doch der junge Mann war wütend auf den Arzt und seine Eltern. Natürlich hatte er die vorangegangene Diskussion nicht gehört, und niemand hatte ihn gefragt, ob er denn überhaupt hören wollte. Jetzt beschwerte er sich über den fortwährenden Lärm, der ihn entsetzlich quälte und dem er keinen Sinn entnehmen konnte. Er war überhaupt nicht am Hören interessiert gewesen. Die Eltern, der Arzt und ich selbst, bevor ich diese Geschichte kannte, waren davon ausgegangen, dass jeder Mensch gern hören möchte. Wir wissen eben ganz genau, was jeder will.
Mitgefühl, das von derartigen Mutmaßungen begleitet wird, ist gefährlich. Es sorgt für viel Leid in der Welt.
Ajahn Brahm (geb. 1951, buddhistischer Mönch englischer Herkunft, der in Westaustralien lebt)
Eine Freundin von mir sitzt mit 35 Jahren wegen MS im Rollstuhl. Alle sagen zu ihr, wie schrecklich das sei und dass sie doch sicher das Laufen und Bewegen so sehr vermissen würde. Meine Freundin nervt dieses Mitleid sehr, denn sie vermisst das Laufen und Bewegen nicht so, wie die anderen denken. Für sie war das in einem anderen, früheren Leben, mit dem sie aber abgeschlossen hat. Ihr Leben jetzt ist eben ganz anders, aber auch ein – für sie – normales Leben.
Sehr schön geschrieben. Mitgefühl braucht diese Zartheit und Behutsamkeit, die uns vor Übergriffigkeit bewahren. Vielleicht ist das der tiefere Sinn der Selbstlosigkeit im Geben. Danke.