Schritte des Lebens
Die Schritte des Lebens sind unergründlich. Wir alle kennen das. In einer Zeit, in der es keine Sicherheit gibt, brauchen wir einander.
An dem Tag, an dem du in mein Leben getreten bist, ist für mich die Sonne aufgegangen. Kein Witz, auch wenn es albern klingt. Wir sind aufeinander zugegangen, haben uns angesehen, zwei Fremde in einer großen Stadt. Es war kalt und windig. Du hattest dich in deinen dunklen Mantel verkrochen, die Arme eng an den Körper gepresst. Du bist auf mich zugekommen, ohne auszuweichen, als würdest du mich kennen. Ich habe gestaunt, bin weitergegangen, direkt auf dich zu.
Wir näherten uns einander wie zwei Magnete. Ich dachte nichts. Ich glaube, ich dachte nichts. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Der Wind spielte mit deinen Haaren, fegte eine Strähne über deine Stirn. Deine Augen fixierten mich wie ein Schraubstock. Blaue Augen. Groß und schön. Ich glaube, du hast nicht einmal gezwinkert. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich hätte ausweichen können, einen großen Bogen um dich herum machen oder einfach an dir vorbeigehen. Ich tat nichts dergleichen, setzte einen Fuß vor den anderen. Noch zehn Meter Abstand, noch fünf, noch einer.
Du standest vor mir. Wir sahen uns an. Die Augen, groß und blau und schön. Die Haarsträhne lag immer noch über deinem Gesicht. Ich hob langsam meine Hand, als könnte eine schnelle Bewegung den Zauber des Augenblicks verscheuchen. Mit zwei Fingern fuhr ich sacht über deine Stirn und verstaute die Haarsträhne hinter deinem Ohr. Du lächeltest.
Ich sah dich an und wusste, dass wir zusammen weitergehen würden. In deine Richtung oder in meine? Das war mir in diesem Moment völlig egal. „Komm“, flüstertest du. Und ich ging mit, folgte dir. Ich wäre dir überall hin gefolgt, bin dir überall hin gefolgt.
Du nahmst meine Hand und gingst los. Während ich mich von dir fortführen ließ, beobachtete ich, wie der Wind mit deinen Haaren spielte. Ein Lächeln machte es sich in deinen Mundwinkeln gemütlich. Ich entdeckte den Schelm in deinen Augen. Deine Augen, groß und blau, wie der Himmel an einem wolkenlosen Winternachmittag, kurz bevor die Sonne untergeht.
Ich glich meine Schritte den deinen an. Ganz leicht, wie von allein. Der Boden knirschte unter unseren Füßen. Schritte im Gleichklang, ohne Worte.
Ich ging mit und sah nur dich, vergaß meinen Weg, vergaß, woher ich kam und wohin ich gehen wollte. Vergaß alles um mich herum. Deine Hand in meiner, deine Schulter an meiner. Der kalte Wind in deinen Haaren. Ich war nicht mehr allein. Wir gingen den Weg zusammen. Ich drückte deine Hand fest.
Ich weiß nicht mehr, wann es angefangen hat, wann meine Schritte kürzer wurden, wann mir bewusst wurde, dass ich in deine Richtung gehe und nicht in meine. Ich kann mich immer noch nicht daran erinnern, wohin ich einmal gehen wollte. Wenn ich es wusste, habe ich es schon vor langer Zeit vergessen.
An einem kalten Winternachmittag, als wir uns zum ersten Mal im Park begegneten, als ich dir die Haarsträhne aus dem Gesicht strich, als du meine Hand nahmst und mich in dein Leben mitnahmst, da habe ich meine Richtung verloren.
Gerade bin ich stehen geblieben und schaue mich um. Wo bin ich nur? Wir sind den Weg gemeinsam gegangen und ich habe mich nie gefragt, wohin die Reise geht. Deine Nähe war mir genug. Dein Weg war mein Weg.
Doch meine Schritte wurden kürzer, deine nicht. Du weißt, wohin es geht, es ist deine Richtung. Meine Schritte wurden kürzer und jetzt steh ich da. Stehe da und erkenne, dass ich meinen Weg verloren habe.
Weißt du was? Ich bleibe jetzt hier stehen, bis ich weiß, wo meine Richtung geblieben ist. Und wenn ich es weiß, dann gehe ich weiter. Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass mein Weg in dieselbe Richtung führt wie dein Weg. Aber wenn ich es weiß, dann sage ich es dir. Solange bleibe ich hier stehen, denn weitergehen kann ich nicht.
Vielleicht kannst du mit mir stehen bleiben, einen Augenblick oder zwei. Vielleicht können wir schauen, ob wir eine Richtung finden, in die unsere Schritte wieder im Gleichklang gehen.
Du bist es nicht, warum meine Schritte kürzer werden. Es ist der Weg. Es ist nicht mein Weg. Und einen Weg, der nicht meiner ist, kann ich nicht mehr weitergehen. Es hat viele Schritte gebraucht, bis ich das erkannt habe.
Ich habe immer auf dich geschaut, in deine Augen geschaut, geschaut, wie der Wind mit deinen Haaren spielt, wie du lachst, wie du weinst. Alles andere war mir egal. Aber wenn die Schritte kürzer werden, wenn die Füße stehen bleiben, wie von allein, dann muss man sich den Weg anschauen.
Lass mich stehenbleiben und sehen, wo ich bin. Lass mich sehen, wohin ich gehen will. Wenn ich es weiß, dann sage ich es dir. Und ich wünsche mir, dass du mich dann ein Stück auf meinem Weg begleitest.
Stephanie Maharaj
Eine Geschichte, die mich berührt hat – ein Thema, dass für jede Beziehung essentiell ist: Folge ich dir dahin, wo du hergehen willst, oder verliere ich mich selbst dabei, wenn ich mich von dir führen lasse. Dein Schluss gefällt mir, denn dann wenn man den eigenen Weg gefühlt verloren hat, wird es Zeit ihn zu suchen.
Danke dir…
Vielen Dank für die berührende und mit wärmender Klarheit geschrieben Geschichte. Ein Umschauen und Innehalten auf dem Weg. Heilend fuer die Seelenruh.
Zeilen, die mich sehr inspirieren. Die Atmosphäre der Beiden lassen manche Gefühle zu.
Auf mich wirken sie sehr warmherzig, einander offen zugewand, auch abenteuerlustig…
Mit liebevoll.jetzt werde ich sicher auch Gedanken, Austausch für meinen Lebensweg teilen können.