Trauer

Trauer, das war für mich halt einfach ein Begriff für ein Gefühl, eine Situation, in die man gerät, wenn man jemanden Nahestehenden verloren hat.
Wenn ich mitbekommen habe, dass jemand trauert, wusste ich, dem geht’s grad nicht so gut. Man lässt Trauernde in Ruhe. Früher gab es ein Trauerjahr, in dem man sich schwarz kleidete. Das war so was wie ein Hinweis, diese Menschen nicht zu belästigen. Man respektierte den Umhang der Unantastbarkeit.
Innerhalb von vier Jahren verlor ich meine drei besten Freunde: Zuerst ging der Vater meines Sohnes, danach mein eigener Vater und dann mein Ehemann.
Trauer ist seither für mich fühlbar. Das stärkste Gefühl, das ich kenne. Es haut dich komplett um. Zuerst bist du wie unter einer Glocke. Du funktionierst. Du tust, was getan werden muss. Du kümmerst dich um Angelegenheiten, um die sich die Verstorbenen nicht mehr selbst kümmern können: du organisierst Bestattung, Wohnungsauflösung, kündigst Verträge. Bank, Ämter müssen Bescheid wissen. Du löschst den Menschen aus dem System. Du redest mit Leuten über den Grund des Todes, nimmst ihre Beileidsbekundungen höflich entgegen und bei all dem fühlst du nichts.
Irgendwann kommst du zur Ruhe. Dann geht es los. Diese unbändige Macht, die dich zu Boden zieht, dir den Atem nimmt, dir einen Stoß nach dem anderen in die Magengegend verpasst. Den Kloß im Hals kannst du wochenlang nicht runterschlucken. Deine Stimme wird leise. Du kannst dich nicht mitteilen. Es gibt keinen passenden Ausdruck. Du siehst die Geschehnisse des Tages im Fernsehen, aber du verstehst nicht, wie dich das je interessieren konnte. Kein Film, der dich ablenken könnte, weil du der Handlung gar nicht folgen kannst. Nachts ist es ruhig, irgendwann schläfst du ein. Jeden Tag wachst du auf und im ersten Moment glaubst du an einen Albtraum und das ist doch alles nicht wahr. Gedanken rennen über dich hinweg, kreisen um dich, finden kein Stoppschild. Hätte ich etwas tun können? Warum habe ich nicht? Warum jetzt gerade? Ist das eine Strafe? Warum hat er nicht? Was soll ich hier noch? Vergangene Worte, Situationen fliegen in Fetzen durch deinen Sinn und du bist müde, so unglaublich müde. Du findest keine Antworten.
In endlosen Monologen, Gesprächen mit meinen Toten konnte ich irgendwann auch meine Wut loswerden darüber, dass sie mich alleine zurückgelassen haben, ohne Antworten. Es gibt diese Antworten auch einfach nicht. Es gibt keinen Grund dafür. Leben beginnt und es endet. Fertig. Jedes „Hätte Sollen“ hat keinerlei Bedeutung. Es gibt kein Zurück. Ich hab mich dieser Gefühls- Walze gestellt, bin unter ihr begraben worden und nach schier endlosen Monaten wieder aufgetaucht.
Ich fing an, Bücher zu lesen von Nahtoderfahrungen, setzte mich mit Religionen auseinander, Quantentheorie, Genetik, Geschichte. Dabei fand ich auch Gerald Hüther, letztlich fand ich auch diese Seite.
Heute noch gibt es Momente, in denen ich völlig gelähmt bin und der Schmerz mich überwältigt. Aber es dauert nicht mehr so lange. Ich weiß, es geht vorbei. Ich brauche dann nur meinen Hund und die Natur. Dann geht es wieder. Wir sind Teil der Natur. Entstehen, vergehen, verwandeln. Nichts verschwindet. Es ändert seine Form, seine Energie. Leben ist ständige Veränderung: Viele kleine, manchmal große. Stillstand gibt es nicht. Das tatsächlich zu begreifen und mich mit den Gesetzen des Daseins zu versöhnen — dazu hat der Verlust meiner Freunde geführt.
Heute bin ich dankbar für die Zeit mit ihnen und weiß genau, dass sie da sind, wenn ich an sie denke.
Ganz langsam und irgendwie ein bisschen weiser bin ich wieder zurückgekehrt in dieses schöne Leben, das jeden Tag etwas für uns bereithält. Liebevoll kann ich jetzt auf Vergangenes schauen in Vertrauen auf meine Kraft. Manchmal wird nicht mehr ALLES GUT. Wo steht geschrieben, dass es das muss? Anders kann auch schön sein.
Danke für deine Aufmerksamkeit.

Simone

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Antworten

  1. Liebe Simone, danke für dein berührendes Schreiben. Abschied für immer zu nehmen von geliebeten Menschen ist eine unfassbar tiefe Erfahrung. Dabei hat mir persönlich immer wieder geholfen mich mit liebevollen Menschen auszutauschen und zusammen zu trauern. Gleichzeitig aber wieder voller Licht ins Leben zu kommen. Auch der Klang meiner so geliebten Klangarbeit war oder ist mir immer wieder ein grosser Helfer und Töster.

  2. Liebe Simone, danke dass du das Unaussprechliche versuchst in Worte zu fassen. Wir trauern wahrscheinlich alle sehr individuell, vom zerreißenden Schmerz bis zum Abstumpfen der Gefühle. Ich habe meinen Sohn verloren und es war anfangs, als wäre ein Teil von mir abgetrennt worden.Mein Leben nach seinem Fortgang hat sich sehr verändert und oft fühlt es sich so an, als hätte er mir einen Auftrag für mein Leben erteilt durch sein Fortgehen.In einer tiefberührenden Therapie, die meine tiefsten Gefühle berührte, sah ich ihn am Ende der Sitzung, er saß auf einer Mauer, grinste mich an und sein Lächeln sagte mir, dass es gut sei, was ich nun mit mir mache. Er hat einfach die Dimension gewechselt und ist nicht gestorben. Das habe ich in dem Moment spüren dürfen. Das ist für viele Menschen esoterischer Unsinn, aber für mich ein Trost.Mehr als alles, was von Menschen und Therapeuten kommen kann.
    Ich wünsche dir weiterhin Verbundenheit zu deinen Liebsten,
    Richard.

    1. Vielen lieben Dank, lieber Richard. Und natürlich hast du vollkommen Recht, dass Trauer etwas sehr individuelles ist und für Jeden etwas anderes bedeutet. Ich habe tiefen Respekt vor deinem Weg. Und es spielt überhaupt keine Rolle, ob deine Art der Heilung für deine Mitmenschen komisch rüber kam. Das einzige, was zählt, ist dass es für dich dazu geführt hat, dass du diesen so schweren Verlust irgendwie verarbeitet hast und das Lächeln deines Sohnes ist doch die beste Bestätigung.
      Alles Liebe, Simone

  3. Liebe Simone,
    ich hatte bislang das Glück, dass niemand gegangen ist, der mir so nahe stand wie deine drei besten Freunde, Danke für deine Offenheit.
    Der Tod meines Vaters vor gut 30 Jahren hatte mich sehr getroffen, aber ich hatte mit den Begleitumständen nichts zu tun und wohnte zu der Zeit auch weiter weg und es geschah unerwartet.

    Das schlimmste daran war, dass man sich nicht verabschieden konnte, dass es keine Chance gab, sich nochmal näher zu kommen.
    Was ich daraus gelernt habe, ist, dass ich seither versuche, meine Gefühle für jemanden offen zu zeigen, emotionale “Dinge” möglichst nicht mehr zu verschieben, gar nicht aus der Angst heraus, dass die andere Person oder ich versterben könnten, aber aus dem Grund, dass man viel mehr innige Momente erleben könnte durch seine Offenheit.
    Das ist auch oft ein Wagnis und diese Offenheit macht mich verletzlicher, aber es geht öfter gut, als ich vorher geglaubt hätte und das ist eine schöne Erfahrung, die sich aus der Trauer entwickelt hat…

    1. Danke, lieber Erich, ich glaube auch, dass es schön ist, wenn man sich offen zeigen kann, darf und möchte. Im Grunde haben wir alle nur zu gewinnen. Es ist auch immer eine Chance, dass sich dann gute und liebevolle Gespräche entwickeln. Und zu erkennen, wie wertvoll seine Lieben sind und mit ihnen genau so umzugehen, das ist ein Schatz, der dir keiner mehr nehmen kann. Liebe Grüße Simone

      1. Liebe Simone,
        genau so ist es, wir können nur gewinnen. Und ich gebe zu, ich habe auch erstmal hier und bei meiner “Männerrunde” ein bißchen im geschützten Raum geübt, mache aber seit ein paar Monaten im realen Leben durchaus gute Erfahrungen und es gibt sogar schon ein paar Leute, die mich gefragt haben, ob ich verliebt wäre, weil ich gut drauf wäre und ich sage dann immer: “Ja, bin ich, ins Leben…” und das für mich ein ganz neue und gute Erfahrung…
        Liebe Grüße Erich

  4. Danke für deine Worte Simone.
    Es ist sicherlich sehr heilsam mit dem Hund in die Natur gehen zu können. Du hast dich der Trauer mit all ihren Facetten gestellt, sie gelebt und nicht verdrängt. Viele Menschen tun dies heute nicht mehr.
    Auch ich musste durch viele Verluste gehen und manches, was du beschreibst, habe ich ebenso empfunden. Habe nur noch nicht den richtigen Ausgang gefunden.
    Ich wünsche die alles erdenklich Gute, Licht und Liebe.
    Marika

    1. Danke, liebe Marika, ich wünsche dir die Kraft, weiterzugehen. Manchmal erkennt man in der eigenen Trauer die Gefühle und Verbundenheit zu anderen Menschen nicht so leicht. Gerade weil wir uns mit diesen so starken Gefühlen nicht unbedingt so schnell öffnen können, braucht es für Jeden seinen eigenen Rhythmus. Einige scheinen schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen, andere brauchen 5 Jahre. Und es gibt sehr viele Facetten dazwischen. Ich wünsche dir den Mut, dich zu zeigen. Ich habe auch sehr lange gebraucht.
      Das macht nichts. Das ist eben so.
      Alles Liebe Simone