Hochsensibel – ein Leben unter Vielen

Meine Augen blinzeln in das gleißende Morgenlicht. Gleich wird der Wecker klingeln. Eigentlich bräuchte ich keinen, da meine innere Uhr zuverlässig funktioniert. 5 Minuten zuvor erwacht aus meinem bunt-glasklaren Traum, spinne ich ihn nun bewusst zu einem schönen Ende. Was die helllodernd rauchfreien Flammen bedeuten, werde ich später recherchieren. Auf die klaren Träume kann ich mich verlassen. Sie zeigen etwas an, davon bin ich nun überzeugt. Auch wenn es Jahre dauerte, bis meine anhaltende Skepsis sich aufgrund der Tagebuch-Einträge irgendwann davonschleichen musste.
Nebenan nervt der Nachbar mit seinen herzfrequenzsteigernden Beats. Meine Freundin hört sie erst, als sie das Ohr an die dicke Ziegelwand presst und aufmerksam lauscht. Beneidenswert. Mein Herz reagiert auf die dumpfen Vibrationen mit starkem Pochen. Also wieder mal Zeit, die Flucht zu ergreifen. Ich schnappe mir zielsicher meine Klamotten für den heutigen Tag – der Blick aus dem Fenster genügt, um die perfekte Zusammenstellung von zugleich wärmedämmender und kühlender Kleidung zu finden. Die Worte meiner Mutter fallen mir ein: „Rin in de Klamotten, raus aus de Klamotten.“ Sie versuchte ihre Hochsensibilität mit Humor zu nehmen, wenn es die Außenwelt zuließ. Aber am Ende erging es ihr mit den feinen Antennen nicht anders als mir – deformiert zum „Sensibelchen“ ist es schwer, in der Leistungsgesellschaft einen Platz einzunehmen.
Das fängt schon im Kindergarten an. Schreien, Rempeln, Weinen um Spielzeug. Warum nicht einfach fair sein und es aufteilen? Dann würde man nicht von der Welle von Aggressionen überschwemmt, an der man noch nachhallend die nächsten Stunden zu knabbern hat. Schon öffnet sich mein Erinnerungsraum an die Schule, wo der Lernstoff gnadenlos durchgezogen wird – no matter what! Keine Zeit, sich Gedanken über das Gelernte zu machen, um sich das zusammenhängende, komplexe Gesamtbild anzuschauen. Keine Zeit zum Rückzug, um dem Kopf wieder ein bisschen Freiraum für neuen Input zu verschaffen. Du zerrst deine Gedanken zurück in den Unterricht und der Anschluss ist weg. Hinke, hinke hinterher und die Selektionsbegabten zucken nur verwundert ihre Schultern.
Da hilft dir weder ein hoher IQ noch die Begabung, Unausgesprochenes in Gesprächen heraushören oder die aufmerksamkeitsabsorbierende Fähigkeit, Stimmungen und Gefühle anderer verstärkt wahrnehmen zu können. Das intensive Nachdenken, die überwältigende Flut von Reizen bremst dich aus. Und wenn du eine tiefergehende Frage stellst, wirst du direkt als kompliziert deklariert, und die Lehrer übersehen gerne deine gehobene Hand; mehrdimensionale Fragen sprengen einfach den Lehrplan. Ganz anders sieht es bei den Kunstfächern aus. Die Lehrer freuen sich über deine außergewöhnliche musikalische Begabung, deine Fantasie und den Ideenreichtum. Weniger gute Noten in den übrigen Fächern macht nur dein gründliches und gewissenhaftes Arbeiten wieder wett. Auf Kosten der Freizeit – denn du kannst es dir nicht leisten, eingeschlichene Fehler zu übersehen.
Ich kann nicht sagen, es sei ein Trost zu wissen, dass 15-20 % der Menschheit diese ganz normale, angeborene erhöhte Gehirnaktivität besitzt, die laut Forschung auf einer intuitiven Informationsaufnahme basiert. Für mich bedeutet es Denken und Erinnern in waberndem Nebel, in dem man nur an seine 3D-Informationscluster kommt, indem man sich über ein undefinierbares Gefühl hinführen lässt. Selig sind die mit Regalen in ihren Köpfen.
Lustig ist es bei der Arbeit, wenn dir jemand sagt: „Mach das mal fertig.“ Ja klar – aber viele Wege führen nach Rom, welche Fertig-Mach-Variante möchtest du? Wie soll das Ergebnis aussehen? So? Oder so? Oder so? Und fragst du nach, erklärt das Schwarz-Weiß-Denken dich für blöd. Und mit den Jahren glaubst du das selbst. Denn ohne Vergleichsmöglichkeit weißt du nicht, dass du anders bist. Dass deine Wahrnehmung eine tägliche Reizüberflutung ist, deine emotionalen und kognitiven Verarbeitungsprozesse systemisch und tiefgründiger sind. Dein Harmoniebedürfnis balanciert stöhnend auf dem schmalen Komfortzonengrat zwischen der Innenwelt und der Außenwelt der Überstimulation und verkehrt sich zur peitschenden Explosion, wenn weiteres Verbiegen nicht mehr möglich ist. „Dünnhäutig“, sagen die einen, „Leg dir mal ein dickeres Fell zu!“, die anderen in ihrer Ahnungslosigkeit. Und du weißt es selbst nicht besser. Du denkst nur, du bist falsch.
Gesund bleiben ist unter diesen Herausforderungen dann möglich, wenn du in einem Umfeld lebst und arbeitest, das dich über deine Stärken fordert. Soziales Engagement, Wissenschaft, Literatur, Musik, Schauspiel, bildende Künste …
Da sind erhöhte Empathie, erhöhtes Bewusstsein und tiefere Verarbeitung nicht ein Fluch, sondern eine Gabe. Wenn du sie nicht gegen, sondern für dich nutzt. Liebevolle Innenschau findet deine Grenzen und Möglichkeiten innen wie außen. Und glaub nicht jedem, der es schlecht mit dir meint.
Ihr fragt, was ist mit deinem Körper? Ich esse wie eine Ziege! Mein Gusto verrät mir zeitnah, wann und was ich möchte oder brauche. Gesellschaftlich ein No-Go. Doch mir tut es gut. So wie das Aufstehen und Gehen, wenn eine Situation zu kräftezehrend wird. Jeder längere Ausflug über die Komfortzone hinaus würde mich sonst abends in schlafraubende Grübelei zwingen. Nicht abschalten, nicht durchschlafen können. Wie willst du da am nächsten Tag fit sein – in der Schule, in der Uni, im Job? Lebenslang? Nö … das Leben hat mir das Andersnormal-Sein geschenkt, also lebe ich es:
Das visuell-räumliche Denken vom „Ganzen ins Detail“ spiegelt sich in meiner Kommunikation und schüttelt Geschichten so aus dem Ärmel. Es lässt das Schritt für Schritt auditiv-sequentiell Geprägte „vom Detail ins Ganze“ aufschreien: „Komm endlich auf den Punkt!“ Da war ich schon, doch hast du den vermutlich aussortiert. Ästhetik kauft mir Hinguck-Kleidung und richtet meine Wohnung stilvoll ein. Das Visionäre und das Umweltbewusstsein spurten mich Dekaden vor dem aktuellen Hype in die längst gelebte Lebensphilosophie. Kinder und Tiere mögen mich. Vice versa. Und mit anderen Hochsensiblen lässt sich der auslaugende Smalltalk skippen – „Wie geht‘s?“ sieht meine Intuition, warum also fragen? Ich stelle mich darauf ein und kann direkt zur Sache kommen. Spart ne Menge Lebensenergie. Mein Humor lacht über Mutterwitz und Wortspielkomik; findet Sarkasmus, Ironie und seinen schwarzen Bruder aber schal. Und ich freu mich wie ein Specht, wenn im Bahnhof unbemerkt mein Glückscent auf den Asphalt rollt, gespickt mit guten Wünschen für den Finder. Winke Wildfremden in der vorbeifahrenden Straßenbahn zu und grinse an der Ampel mit der roten Clownsnase den Autonachbarn an. Der Straßenkehrer leuchtet auf, wenn ich ihm für die gute Arbeit danke, weil seinetwegen der Marktplatz so schön glänzt …
Der Weg war lang. Der Weg bleibt hart. Doch macht eins ihn sanfter: Das liebevolle Lächeln in allen meinen Spiegeln.

Heike Schueler

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  1. Hallo, es ist so bereichernd, solch einen Text lesen zu dürfen. Nachdem meine Frau vor über 10 Jahren versuchte, unsere mittlere Tochter mit ihrem Verhalten zu verstehen und dabei deren und letztlich ihre eigene Hochsensibilität erkannte, sehen wir vieles klarer und dachten, auch gelassener. Mit Human Design kam dann noch weitere Erkenntnis hinzu und wir bedauern nur, erst so spät diese Erkenntnisse zu bekommen. Und trotzdem ist es eine tägliche Herausforderung. Zu lesen, wie dies mit Humor gelingen kann, macht Mut. Danke dafür!

  2. Dankeschön, erst heute stieß ich auf deinen Text. Ich musste lachen. Es war, als hätte ich eine kurze und intensive Diagnose bekommen, eine Beschreibung meiner Innenansichten. Wie so oft ging ich gestern mit meinem kleinen Hund spazieren. Ein älterer Herr stand da, er hatte einen Atemschlauch in der Nase und entsprechend hörte ich ihn schon von Weitem schnaufen. Als ich näher kam, spürte ich direkt seinen Ärger. Ich sah ihm direkt ins Gesicht: Das Taxi! Wann kommt es? Haben Sie eine Uhr? Abegehackt kamen die kurzen Sätze in meine Richtung. Natürlich blieb ich stehen, schaute auf mein Handy und sagte ihm die Uhrzeit.
    Gleichzeitig ratterte mein Kopf:
    Das geht dich nix an. Geh einfach weiter. Du musst jetzt nichts weiter tun. Bestimmt kommt das Taxi gleich… Aber er ist so hilflos, so voller Ärger, der Taxifahrer wird nix zu lachen haben, was, wenn er umfällt, ist das dann unterlassene Hilfeleistung? Aber da sind bestimmt Nachbarn, bestimmt kommen gleich andere Leute…
    Ich wünschte ihm einen Guten Tag und ging ein Stück weiter. Hinter dem nächsten Baum blieb ich am Straßenrand stehen und wartete etwa 10 Minuten, bis das Taxi endlich kam.
    Man sagt mir immer, ich solle andere Menschen nicht so wichtig nehmen und mir ihre Sorgen nicht zu Herzen nehmen. In dieser Situation habe ich mich selbst verarscht: Ich musste einfach sicher sein, dass dieser Mann nicht alleine zurück bleibt und gleichzeitig ging ich aus der Situation. Ich konnte mir anschließend also sagen: Ich hätte eingreifen können. Und dennoch habe ich niemanden mit meiner Wahrnehmung belästigt.
    Ich denke, du verstehst, was ich meine.
    Oft geben wir Ratschläge, die andere nicht hören wollen, weil sie gar nicht erkennen, warum wir das jetzt gesagt haben.
    Daran bin ich oft verzweifelt und noch immer am Üben. Diese Welt draußen zu lassen, ist eine Herausforderung.
    Wäre ich nicht hinterm Baum geblieben, hätte mich das wahrscheinlich meine Nachtruhe gekostet.
    Und ja, ich weiß mittlerweile, dass es Viele von uns gibt. Wir haben bloß lernen müssen, uns zu verstecken und zu verstellen, denn auch wir brauchen die Gemeinschaft, die so wenig Raum für uns lässt.
    Ich wünsche dir einen angenehmen Sonntag.
    Liebe Grüße

  3. Danke für diese Einsichten in eine sehr differenzierte Welt. Die Wahrnehmung des Straßenkehrers und seine Würdigung hat mich hoffnungsvoll für unsere Welt gestimmt, wie auch dein ungebrochener Humor ( dein Clownnasenlächeln dem Autofahr – Nachbarn zu) – die heruntergezogenen Mundwinkel und so manch tote Augen bedrücken mich wenn ich in den Straßen unserer Städte entlangfahre. Die Energie und Zuversicht zu heben mit einem Lächeln, dass leider oft unerwidert bleibt doch mit einem überraschten Blick zurück , dass versuche ich zu geben.