Schreiben – ein Weg zur Freundschaft mit sich selbst

Wer sich im Internet herumtreibt, nutzt das Werkzeug Schreiben permanent: Adressen eingeben, Mails schreiben, Messages austauschen, Bestellungen aufgeben. Dass Schreiben auch eine Kunst ist oder gar eine therapeutische Methode, purzelt ungesehen in den Spamordner. Das Briefeschreiben haben wir ja sowieso bereits verlernt. Das Museum der verdrängten und überkommenen Lebensformen und Technologien hat unüberschaubare Maße angenommen. Der Besuch lohnt sich also.
Schon vor vielen Jahren stieß ich zum ersten Mal auf das Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron. Und weil ich gerade Künstler geworden war – ich hatte mein erstes Geld als Autor verdient und die Künstlersozialkasse hatte mich in ihre heiligen Hallen aufgenommen – wollte ich diesen Weg unbedingt mitgehen, als Selbstvergewisserung, gewissermaßen.
Das Erste, worüber ich auf diesem Weg, der als 12-wöchiges Trainingsprogramm konzipiert ist, stolperte, war die Belohnung an mich selbst. Man sollte sich selbst belohnen, sich etwas gönnen? Ungewöhnlich für ein Trainingsprogramm, bei dem es typischerweise eher um Anstrengung, Übung und Herausforderungen gehen sollte. Und typisch meine Reaktion, glauben doch die meisten von uns immer noch an Mühe, Arbeit und Qual, um ein Ziel zu erreichen. Diese Belohnung à la Julia Cameron – von der New York Times als queen of change bezeichnet –, nennt sich Künstlertreff und beinhaltet, dass man einmal in der Woche etwas Schönes und Neues tun darf, ein Museumsbesuch etwa oder ein Stück Torte im besten Café am Platz. War ich etwa so streng gewesen im Umgang mit mir selbst, dass ich jetzt dieses Geschenk ungläubig und nur mit schlechtem Gewissen annehmen konnte? Sind wir so harte Erzieher unseres Selbst, dass wir Belohnungen auch vor uns selbst erst einmal verdienen müssen? Das Belohnen indes hat mir gutgetan: Ich fing an, mir selbst zuzulächeln, erst verschwörerisch, dann mit Dankbarkeit, schließlich in Freundschaft und Einvernehmen.
Die wichtigste Praxis des Programms ist jedoch das tägliche Schreiben, und weil ich das inzwischen schon viele Jahre mache, möchte ich davon erzählen. Julia Cameron empfiehlt nämlich, jeden Morgen nach dem Aufstehen drei Seiten voll zu schreiben. Mit dieser etwas ungelenken Formulierung möchte ich betonen, dass es nicht um das Verfassen eines Textes geht, nicht um Wortwahl, nicht um Genialität oder Reflektiertheit. Es geht darum, den Kopf zu befreien, alles herauszulassen, was sich dort umtreibt, ungehemmt und ungefiltert sein Innerstes schreibend nach außen zu stülpen. Und das Geschriebene nicht zu bewerten!
Also einfach sich hinsetzen und losschreiben! Möglichst keine Pausen machen, nicht nachdenken, in den Fluss kommen. Und wenn ich glaube, gerade keinen Gedanken zu haben, schreibe ich: „Gerade ist alles dumpf, die Gedanken haben sich versteckt.“ Dann geht es meist schon weiter.
Als ich früher einmal Tagebuch schreiben wollte, setzte mich das gewaltig unter Druck. Ich überlegte ewig lange, was berichtenswert sei, suchte nach eleganten Formulierungen und stellte mir damit selbst ein Bein. Bei den Morgenseiten stellen wir alle Ansprüche an Leistung, Brillanz, etc. zur Seite. Um die drei Seiten voll zu kriegen, schreibe ich oft irgendetwas hin, manchmal ohne Zusammenhang. Ich notiere aber auch  das, was am Vortag passiert ist, was mir widerfahren ist, was ich gedacht und gefühlt habe. Ich erinnere mich an meine Ängste, an meine Träume und meine Begierden. Weil niemand je meine Morgenseiten lesen wird, kann ich mit der Zeit immer offener werden und es entsteht beiläufig ein Dokument meines (Innen-)Lebens.
Jeder professionelle Autor sollte wissen, für wen er schreibt. Wer ist sein Leser, wie sollte er ihn ansprechen, welche Worte sollte er wählen?
Wer ist mein Leser?
Das bin natürlich ich selbst. Als ich nach Wochen des Schreibens zum ersten Mal begann, meine Seiten zu lesen, entdeckte ich mich. Ich las, dass ich vor Wochen schon die gleichen Befürchtungen hatte wie heute, dass ich Aufgaben vor mir herschob und wieder einmal zu viel Schokolade gegessen hatte. Ich las, wie ich unter einem Ehestreit gelitten und mich über meinen Sohn geärgert hatte, der sich weigert, für Chemie zu lernen. Ich schaute mir selbst bei meinen Bemühungen zu, mein Alltagsleben auf die Reihe zu kriegen. Dabei entdeckte ich einen Menschen, der mir sehr nahe war. Nach Monaten des Kennenlernens entstand dabei eine Freundschaft, die zuvor wegen der üblichen Dynamiken des Antreibens, des vermeintlichen Versagens und Selbstverurteilens nicht möglich gewesen war. Der Kontakt über das tägliche Schreiben an mich selbst hatte den Inneren Kritiker nämlich beiseitegeschoben, und so war ganz allmählich eine liebevolle Beziehung zu mir selbst möglich geworden.
Natürlich hat es Rückschläge gegeben, so wie auch Freundschaften zu anderen Menschen gute und schlechte Zeiten haben. Aber der Mensch, an und für den ich täglich meine Seiten schreibe, ist mir ans Herz gewachsen. Die Person, deren Zeilen ich hin und wieder lese, steht mir nah wie niemand sonst. Im Laufe der Jahre sind tausende Seiten Text zusammengekommen mit abertausenden Wiederholungen und ein paar klugen Einsichten, Gedanken und Ideen. Nebenher bin ich zum Künstler geworden, der ich aber ohnehin schon war. Denn nach Ansicht von Joseph Beuys ist jeder Mensch ein Künstler.

Zitat Julia Cameron: „Viele blockierte Menschen sind in Wirklichkeit starke und kreative Persönlichkeiten, denen man wegen ihrer Kraft und ihren Talenten ein schlechtes Gewissen eingepflanzt hat.“

Peter Nink
www.peter-nink.consulting

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Antworten

  1. Tagebuch Beginn von Ariane …

    So, meine erste Seite ist im A4 blanko Ringblock geschrieben. Es war ganz leicht. Vor allem erinnere ich mich daran, dass ich dies wohl schon viele Leben getan habe. Es entsteht eine unbändige Freude in mir, mein Herz hüpft vor Freude, ich tanze regelrecht mit den Buchstaben. ;o)))
    Mir fällt gerade so viel zum Schreiben ein. Ein Erlebnis im Arthur Findlay College, eine Schule in England für traditionelles Heilen und Medien ausbilden. Medien, die mit Verstorbenen kommunizieren können. Dort fühlte ich mich 2003, das erste Mal in meinem Leben richtig. :o)))
    Dort waren überall Menschen mit medialen Fähigkeiten, so wie ich auch. Welche WUNDERVOLLES Erlebnis. Auch mich daran zu erinnern, erfüllt mich mit Dankbarkeit und Freude. Also…während einer Gruppen Sitzung in der “Church” erhielt ich die Botschaft das ich mehrere Bücher schreiben werde. Damit konnte ich nichts anfangen, da ich zu dieser Zeit gar nicht gerne schrieb. So ändert sich dies über die vielen Jahre (21 Jahre ist dies her ;o) . Ein 21 Jahre Zyklus ist für mich etwas ganz Besonderes. Nun weiß ich endlich, was meine neue Aufgabe ist. Ich dümpelte die letzten Wochen planlos vor mich hin und wusste das seit Jahren etwas in mir schlummert was sich befreien möchte. Nun weiß ich endlich, was dies ist!
    Yippie!!
    Ganz herzlichen DANK an dieses Forum hier liebevoll.jetzt an Peter Nink und an alle die hier ihre Erfahrungen übers Schreiben geteilt haben. ich fühle gerade so viel Energie! POWER, KRAFT, LIEBE, FREUDE, mein HERZ hüpft immer mehr.
    DANKE für diese wunderbare Geschenk!
    Ich freue mich sehr auf das Schreiben und die endliche wieder fließende Kreativität. Da ich auch sehr gerne male, wird es bestimmt eine Kombination werden aus Schreiben und Malen.

    Spannend. Leben, du hast mich zurück!

    Alles Liebe dir, euch und uns!

    Von Herzen
    Ariane

  2. Lieber Peter,
    danke für deine Beitrag der mich sehr inspiriert den Stift öfter zu schwingen und meinem Inneren freien Lauf zu lassen. Auch all die Beiträge von den anderen übers Schreiben finde ich bereichernd und lehrreich. Welch einfache Mittel uns zur Verfügung stehen, wenn wir diese denn auch wirklich anwenden! Schön, ich schreibe gleich mal los … ;o)))

    Das mit dem Ringblock von Heion finde ich auch eine super Idee!
    Ich habe gerade eine leere A4 blanko Version hier und beginne nun zu SCHREIBEN!

    Herzliche Grüße an dich und alle anderen :o)))

    Ariane

  3. Ich habe für mich das schreiben am Abend entdeckt. Es ist ein “den-Tag-revue-passieren-lassen”, gedanken sortieren, und zuwar bewusst VOR dem schlafengehen, denn oft fing das vor dem abendlichen Schreibritual bei mir erst an, wenn ich im Bett lag und schnell einschlafen wollte, dann kamen alle Erlebnisse des Tages hoch und das Gedankenkarussell ging an. Mittlerweile lasse ich unter vier Fragestellungen den Tag Revue passieren und verarbeite damit schonmal, was heute alles geschehen ist:
    Was war heute schön?

    Wofür bin ich heute dankbar?

    Worauf bin ich heute stolz?

    Womit geht es mir heute nicht so gut?

    So können sich die neuesten Eindrücke nochmal etwas Platz nehmen, dann aber auch legen, und seitdem schlafe ich viel schneller ein, denn mein Kopf ist dann schon leer.

    Übrigens: für wen dieser zusätzliche Programmpunkt am Abend erstmal ungelegen wirkt, weil “da ist man geschafft vom Tag und will man ja endlich schlafen” – diese Gedanken kenne ich nur zu gut, ich schaffe es auch nicht an jedem Abend, mich nochmal an den Tisch zu setzen. Und das ist auch total okay. Aber ich merke dann im Bett, dass ich nicht zur Ruhe komme und weiß, dass ich wahrscheinlich schneller eingeschlafen wäre, hätte ich einfach 5 minuten geschrieben. 😉

    Vielleicht mag es ja mal jemand ausprobieren?

    1. Liebe Annerose,
      herzlichen Dank für deine Hinweise und auch für den Text in deinem Profil.
      Bei mir ist es so, dass ich abends meist sehr gut einschlafe, aber es morgens oft schwer habe, in Fluss zu kommen. Daher hilft mir das Schreiben am Morgen mehr.
      Manchmal schreibe ich aber auch abends und zwar dann, wenn mich außergewöhnliche Erlebnisse noch sehr stark bewegen. Danach komme ich wieder in ein ruhiges Fahrwasser und kann gut schlafen.
      In sehr seltenen Fällen schreibe ich auch nachts, wenn Gedanken anfangen wollen zu kreisen und finde danach wieder in einen unbelasteten Schlaf.
      Wenn mich tagsüber mal etwas sehr aus der Fassung bringt, schreibe ich auch mitten am Tage. Und wenn das die Umstände nicht zulassen, suche ich mir einen geeigneten Platz und spreche auf mein Handy. Auch das habe ich als sehr hilfreich erlebt.

  4. „ICH SCHREIBE, UM MIR ZU ENTKOMMEN.“
    Dieses Bekenntnis, war die Überschrift eines Interviews mit einem bekannten Autor und Dramaturgen, das ich gestern erst gelesen habe.
    Mir sind viele Einsichten über das Schreiben bekannt, aber diese bisher noch nicht. Auch die Ehrlichkeit dieses Bekenntnisses verblüffte mich, aber ich spürte sofort: das trifft für mich beim Schreiben in meinem Tagebuch auch zu. Zugleich kann ich jedoch sagen: ICH SCHREIBE, UM MICH ZU FINDEN. Vielleicht muss man sich selbst entkommen, damit man sich finden kann. An anderer Stelle bekennt der Autor, dass das Schreiben ihm das Leben gerettet habe…

  5. Ich schreibe seit ich 14 oder 15 Jahre alt bin “Gedankenbücher”, so nenne ich sie. Der Trend solcher Niderschriften ist, dass man das Bedürfnis hat, sich überwiegend Ärger, Trauer und negatives von der Seele zu schreiben, so auch bei mir. Im psychologischen Sektor wird nun dazu geraten, z.B. täglich 3 schöne Vorkomnisse zu beschreiben, damit man somit dieser Neigung ganz bewußt entgegenwirken kann.
    Liebe Grüße Silvia

    1. Liebe Silvia, was du schreibst, passt auch zu meinen Erfahrungen. Beim Aufschreiben der erfreulichen Ereignisse, Erlebnisse, Gedanken und Gefühle verstärkt sich die Freude und umgekehrt verringert sich beim Niederschreiben der leidvollen Erfahrungen das Leid – getreu dem Sprichwort: Geteilte Freude ist doppelte Freude und geteiltes Leid ist halbes Leid…
      Liebe Grüße Heion

  6. Gerade las ich zufällig in der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE einen wundervollen Bericht über das Schreiben, der sehr gut zu diesem Erfahrungsbericht von Peter Nink passt:
    Schreiben bei Unzulänglichkeit
    Die Psychotherapeutin Karoline Klemke berichtet über die geheime Kraft des Schreibens und wie sie sie entdeckte.

    1. Hier noch ein kurzer Nachtrag: PSYCHOLGIE HEUTE gibt ein Dossier unter dem Titel SCHREIBEN heraus. Für ein paar Euro habe ich es mir komplikationslos zuschicken lassen. Dort wird in vielen Beiträgen über die Heilsamkeit des Schreibens berichtet und warum das so ist.

  7. Lieber Peter, danke dir für deine offenen und so einladenden Worte. Sie sind bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen, inkl der Empfehlung von Julia Cameron, welch ein Schatz. Habe Caro untenstehend schon geschrieben, dass ich seit einigen Monaten begeisterte Morgenseiten-Schreiberin bin und mich das Buch echt inspiriert hat! Vielen Dank nochmal dafür! Lg Daniela

  8. Lieber Peter, gerade lese ich deinen Beitrag und fühle mich seltsam berührt: er fällt mir direkt vor die Füße, ohne ihn aktiv gesucht zu haben. Die Idee vom “Schreiben” hat es sich seit ein paar Wochen in meinem Kopf gemütlich gemacht. Schiebt sich immer öfter zwischen die Gedanken. Ich finde bislang keinen Anfang, habe keine Ahnung, was und wie und für wen ich da eigentlich schreiben möchte. Aber es ist ein fast schon drängendes Bedürfnis. Vielleicht schließe ich jetzt einfach mal Bekanntschaft mit Julia Cameron und ihren Morgenseiten?
    Dir einen lieben Dank für deine Zeilen und das Teilen deiner Erfahrungen. Ich werde jetzt versuchen, meine eigenen zu finden.
    Liebevolle Grüße, Caro

    1. Liebe Caro,
      mir ist es ähnlich ergangen wie dir. Ich hab beim Zwischendurch-Schmökern der Sonntagspost von liebevoll jetzt den Blog übers Schreiben entdeckt. Da ich auch seit Längerem das Bedürfnis hatte, das Schreiben zu intensivieren, hab ich mir sofort zwei Bücher von Julia Cameron gekauft und bin seit April begeisterte Morgenseiten-Schreiberin. Es ist einfach genial. Ich steh auf und freu mich aufs Schreiben (und ich bin kein Morgenmensch…). Mittlerweile hats mich so gepackt, dass ich im Sommer viele Gedichte geschrieben habe und auch schon eine Kindergeschichte. Ich kann dir das Buch “Von der Kunst des kreativen Schreibens” echt ans Herz legen. Es ist wie ein kleiner Schatz und entfacht schlummernde Energien. Alles Gute dir, viel Freude beim Schreiben und Entdecken der Tiefen deines Selbst. Liebe Grüße Daniela

      1. Liebe Daniela, ganz lieben Dank für deine Nachricht und die Literatur-Empfehlung. Das werde ich mir auf jeden Fall anschauen. Vielleicht hast du ja auch weiterhin Lust in Kontakt zu bleiben und unsere Erfahrungen auszutauschen? Liebe Grüße, Caro

  9. Lieber Peter,

    Dein Erfahrungsbericht zum täglichen Schreiben in Form der Morgenseiten nach Julia Cameron spricht mich sehr an. Dabei freue ich mich zugleich, in Dir einen Menschen anzutreffen, der ähnliche Erfahrungen mit dem Schreiben macht wie ich.

    Ich bin inzwischen 80 Jahre alt geworden und bei mir hat sich das Schreiben vor gut 60 Jahren ganz allmählich aus einem inneren Verlangen heraus entwickelt. Anfangs schrieb ich nicht täglich, aber je mehr ich die Erfahrung machte, wie sehr das Schreiben zu einer Stärkung fürs tägliche Leben anwuchs, schrieb ich jeden Morgen. Manchmal auch während der Arbeitszeit im Büro. Deswegen war ich damals dazu übergegangen, auf A4-Seiten zu schreiben, anstatt im gebundenen Büchlein – das war weniger auffällig.

    Genau wie Du berichtest, schrieb ich ohne Scheu und unzensiert über alles, was mich von innen oder außen bewegte und erfuhr dabei Entlastung, Stärkung und Klarheit für Entscheidungen und oft auch gute Ideen und Inspirationen, die beim Schreiben aufstiegen.

    Vorwiegend schreibe ich morgens handschriftlich. Besonders manchmal bei Morgentiefs ist das eine gute Hilfe in den Tag, besser gesagt, in die eigene Kraft zu kommen.
    Das unmittelbare, handschriftliche Schreiben mit dem Stift in der Hand erlebe ich elementarer und kraftvoller als auf der Tastatur zu schreiben. Zu anderen Tageszeiten schreibe ich auch gerne in meinem PC-Tagebuch und seitdem die Technik es ermöglicht, diktiere ich Handschriftliches gerne auch auf mein Handy und lasse es in Schrift umwandeln. Denn inzwischen finde ich es schön, alles komplett im Tagebuch auf meinem Notebook zu haben, auch manchen Brief und manches Foto. Ich habe die Zeit dazu und so ist das Tagebuchschreiben inzwischen zu einer stärkenden, erfreuenden Lieblingsbeschäftigung für mich geworden – wie für einen Künstler seine Kunst.

    Das so reichlich Geschriebene hortete ich in einer verschließbaren Abstellkammer, denn es sollte ja niemand außer mir lesen. Vor kurzem befreite ich das Verschlossene aus seinem Verlies. Ca. 30 A4-Ringbücher und einige Kladden aus den ersten Schreibjahren reihen sich nun oben auf meinem Wohnzimmerschrank. Ein Gedächtnisprotokoll aus einer 2-jährigen Psychoanalyse aus den Jahren der Midlife-Crisis ist auch dabei und viele Träume, wenn sie mir wichtig waren. Ich empfinde diese Tagebuchsammlung als einen Schatz, so wie ich mein Leben in Tiefen und Höhen, Krankheit und Gesundheit, Scheitern und Gelingen auch als einen Schatz ansehe. Und ich finde es wunderbar, hier und da in meinem Lebenslauf fast eins zu eins nochmal neu aufsetzen zu können. Solange ich leben werde, wird mir das Leben wohl niemals langweilig werden, weil es mir immer neuen Stoff schenkt, über den zu schreiben es sich lohnt.

    Vor etwa 2 Jahren hatte ich auf Video ein Gespräch zwischen Gerald Hüther und dem Schauspieler und Kabarettisten Gernot Haas zum Thema Angst verfolgt. Gerald Hüther meinte u.a., dass selbst Häftlinge im Knast selbstwirksam in ihrer Kraft bleiben können, in dem sie z.B. Schach spielen oder Gedichte schreiben usw. Mir wurde in dem Moment klar: sofern es denn möglich wäre, würde ich auch in dieser Extrem-Situation schreiben, schreiben was ich innerlich und äußerlich erlebe.

    Mit herzlichen Grüßen
    Heion Pick