Von der Schwierigkeit zu lieben

Schwierigkeit zu lieben Brocher

Bitte höre, was ich nicht sage! Lass Dich nicht von mir narren. Lass Dich nicht durch das Gesicht täuschen, das ich mache. Denn ich trage tausend Masken – Masken, die ich fürchte abzulegen. Und keine davon bin ich. So tun als ob ist eine Kunst, die mir zur zweiten Natur wurde. Aber lass Dich nicht täuschen, um Gottes willen, lass Dich nicht von mir narren …

Mein Äußeres mag sicher erscheinen, aber es ist meine Maske. Darunter ist nichts Entsprechendes. Darunter bin ich, wie ich wirklich bin; verwirrt, in Furcht und alleine.

Aber ich verberge das. Ich möchte nicht, dass es irgendjemand merkt. Beim bloßen Gedanken an meine Schwäche bekomme ich Panik und fürchte mich davor, mich anderen überhaupt auszusetzen. Gerade deshalb erfinde ich verzweifelt Masken, hinter denen ich mich verbergen kann. Eine lässige, kluge Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen, die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde.

Dabei wäre dieser Blick gerade meine Rettung, und ich weiß es. Wenn er verbunden wäre mit Angenommenheit, mit Liebe.

Das ist das Einzige, was mir die Sicherheit geben würde, die ich mir selbst nicht geben kann, dass ich wirklich etwas WERT bin.

Aber das sage ich Dir nicht. Ich wage es nicht. Ich habe Angst davor. Ich habe Angst, dass Dein Blick nicht von Annahme und Liebe begleitet wird. Ich fürchte, Du wirst gering von mir denken und über mich lachen – und Dein Lachen würde mich umbringen.

Ich habe Angst, dass ich tief drinnen in mir selbst nichts bin, nichts wert, und dass Du das siehst und mich abweisen wirst. So spiele ich mein Spiel, mein verzweifeltes Spiel; eine sichere Fassade außen und ein zitterndes Kind innen.

Ich rede daher im gängigen Ton oberflächlichen Geredes. Ich erzähle Dir alles, was wirklich nichts ist, und nichts von alledem, was wirklich ist, was in mir schreit; deshalb lass Dich nicht täuschen von dem, was ich aus Gewohnheit rede.

Bitte höre sorgfältig hin und versuche zu hören, was ich NICHT sage, was ich gerne sagen möchte, was ich um des Überlebens willen rede und was ich nicht sagen kann.

Ich verabscheue Versteckspiel. Ehrlich! Ich verabscheue dieses oberflächliche Spiel, das ich da aufführe. Es ist ein unechtes Spiel. Ich möchte wirklich echt und spontan sein können, einfach ich selbst, aber du musst mir helfen. Du musst Deine Hand ausstrecken, selbst wenn es gerade das Letzte zu sein scheint, was ich mir wünsche. Nur Du kannst diesen leeren, toten Glanz von meinen Augen nehmen. Nur Du kannst mich zum Leben rufen. Jedes Mal, wenn Du freundlich und sanft bist und mir Mut machst, jedes Mal, wenn Du zu verstehen versuchst, weil Du Dich wirklich um mich sorgst, bekommt mein Herz Flügel – sehr kleine Flügel, sehr brüchige Schwingen, aber Flügel!

Dein Gespür, Dein Mitgefühl und die Kraft Deines Verstehens hauchen mir Leben ein. Ich möchte, dass Du das weißt. Ich möchte, dass Du weißt, wie wichtig Du für mich bist, wie sehr Du aus mir den Menschen machen kannst, der ich wirklich bin – wenn Du es willst.

Bitte, ich wünschte, Du wolltest es. Du alleine kannst die Wand niederreißen, hinter der ich zittere. Du alleine kannst mir die Maske abnehmen. Du alleine kannst mich aus meiner Schattenwelt, aus Angst und Unsicherheit befreien – aus meiner Einsamkeit. Übersieh mich nicht. BITTE – bitte, übergehe mich nicht.

Es wird nicht leicht für Dich sein. Die lang andauernde Überzeugung, wertlos zu sein, schafft dicke Mauern. Je näher Du mir kommst, desto blinder schlage ich zurück. Ich wehre mich gegen das, wonach ich schreie. Aber man hat mir gesagt, dass Liebe stärker sei als jeder Schutzwall, und darin liegt meine Hoffnung.

Bitte versuche diese Mauern einzureißen, mit sicheren Händen, aber mit zarten Händen; ein Kind ist sehr empfindsam.

Wer ich bin, magst Du Dich fragen?

Ich bin jemand, den Du sehr gut kennst.

Denn ich bin JEDERMANN, den Du triffst.

Jeder MANN und jede FRAU, die Dir begegnen.

 

Auszug aus dem Buch von Tobias Brocher: Von der Schwierigkeit zu lieben. Kreuz Verlag. Stuttgart 1997.

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Antworten

  1. Der Text hört sich sehr nach einer Beschreibung von Co-Abhängigkeit an. Ich glaube, der Begriff bezeichnete ursprünglich Angehörige von z.B Alkoholkranken, wurde später aber ausgeweitet auf Personen, die den Wunsch haben (oder süchtig danach sind), wichtig für andere Menschen zu sein oder alles tun, um anderen Menschen zu helfen, um geliebt zu werden, ihre eigene Persönlichkeit aufgeben. Aber wie kann ein Mensch ohne eigene Persönlichkeit geliebt werden?
    Es ist ein langer Weg zu lernen, sich selbst zu lieben. Ich arbeite schon lange daran (z.B. in Therapien und Selbsthilfegruppen), meine Co-Abhängigkeit zu überwinden. Sie ist wie ein Mechanismus, der sofort anspringt, wenn man hört, dass z.B. jemand ein Problem hat, etwas nicht kann usw. Ich biete dann sofort an zu helfen, so schnell und so oft, dass ich dann ziemlich ausgelaugt bin. Und ich bin nie gut genug, mache mich nie passend genug.
    Meine Übung lautet daher: liebevoll mit mir selbst sein. Es lohnt sich.

  2. Sich hinter einer Maske zu verstecken, um das Gesicht nicht zu verlieren …
    Aus Selbstschutz? Angst vor Verletzung? Wunsch nach Dazugehörigkeit? Oder eine Anpassungsstrategie, um in einer Gesellschaft zu überleben, der eine wirkliche Debattenkultur anscheinend abhanden gekommen ist, eine Gesellschaft, in der man für eine eigene Meinung, für das Selbstdenken ausgegrenzt wird. Nicht viele Menschen sind stark genug, wirklich authentisch zu sein, aber gerade diese Menschen sind es, mit denen eine nähere Begegnung um so vieles leichter ist und aus der man innere Kraft schöpfen kann.

  3. Die bedingungslose Liebe, die dieser Maskenmensch fordert, ist in meinen Augen einseitig.
    Die Kommunikation erfordert die Interaktion von mindestens zwei Personen. Aber kann man mit einer Maske ehrlich kommunizieren, interagieren? Wie weit kann man sich einem Menschen öffnen, der nur Floskeln von sich preis gibt und sein wahres Ich hinter einer Maske versteckt?
    Was für eine enorme Erwartung hat die maskierte Person eigentlich an mich? Ich soll mit meiner Liebe ihr Schicksal verändern? Und was, wenn sie das vielleicht gar nicht will und meine Kraft aufsaugt wie ein Schwamm, aber keine Resonanz gibt, sondern ihre Masken weiter trägt? Beim nächsten anklopft und um seine Liebe bettelt, aufsaugt und weiter zum nächsten geht? Solche Menschen habe ich auch schon öfter kennengelernt. Kann man ihnen wirklich helfen?
    Sie hasst ihre Schwäche – gibt es einen Menschen der vollkommen ist? Ich kenne niemand.
    Sie erwartet, dass ich sie bedingungslos annehme und liebe, kann man eine Maske lieben, von der man nicht weiß, wer/was dahinter ist? Ehrlich gesagt, das würde mich überfordern, denn die Maske ist im Grunde eine Lüge. Kann man eine Lüge bedingungslos lieben?
    Liebe ist stärker als ein Schutzwall, aber woher soll ich wissen, ob hinter dem Schutzwall wirklich jemand ist?

    Ich denke dieses Beispiel hinkt, denn von den LeserInnen wird etwas gefordert, was niemand leisten kann, es sei denn, die maskierte Person lüftet ihr Geheimnis, wer sie ist, damit Kommunikation stattfinden kann.
    In unserer Gesellschaft ist das Maskentragen weit verbreitet, nicht erst durch Corona. Medien, Mode, Social Media usw. vermitteln ein Menschenbild und die entsprechenden Masken dafür, das keiner Realität standhält.
    Ich wäre bereit, auf die maskierte Person zuzugehen, wenn sie ihre Maske absetzt, sich zeigt, denn dann könnte ich ihr evtl. helfen, das zitternde Kind zu trösten.
    Wer im übertragenen Sinne mit so vielen Masken herumläuft und um Hilfe schreit, dem könnte eine Therapie vielleicht mehr helfen als ich. Ich kann jemand lieben, aber die Person muss es auch annehmen wollen.
    Bedingungslose Liebe bedeutet nicht, dass wir uns verausgaben, denn dann werden wir selbst zu Bedürftigen. Liebevoll zu sich selbst sein bedeutet auch, dort eine Grenze zu setzen, wo wir uns verausgaben und leer werden. Wir können immer nur aus dem eigenen Überfluss schenken, wenn unsere Schale voll ist und überläuft.