Zur Friedensfähigkeit des Menschen

Die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine stellen die Frage nach der Friedensfähigkeit der modernen Welt mit einer unvermittelten Wucht. Zwar sind ständig wachsende Bedrohungen in den letzten Jahren immer deutlicher zutage getreten: der übermäßige Verbrauch von Energie; der scheinbar unbegrenzt wachsende Einfluss der großen Digital-Konzerne, die Klimaerwärmung, das Artensterben, die Corona-Pandemie. Dennoch war bisher nicht vorstellbar, dass das auf der Aufklärung beruhende Selbstverständnis, das Welt- und Menschenbild der Menschen in der westlichen Welt so grundlegend infrage gestellt werden konnte, wie das durch den Angriffskrieg Putins jetzt geschieht. Sind wir bei unseren Versuchen, die Ideen der Aufklärung umzusetzen und ein friedliches, demokratisch verfasstes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen, in einer Sackgasse gelandet?

Dabei verfügen wir Menschen über hervorragende kognitive Fähigkeiten. Aber schon Immanuel Kant hatte den Verdacht, dass unser nackter Verstand wenig nützt, wenn wir nicht den Mut aufbringen, ihn auch zu nutzen. Es nützt nichts, die Menschen aufzuklären, zu informieren, ihnen möglichst viel Wissen zur Verfügung zu stellen, wenn ihnen der innere Impuls, also der Mut fehlt, das Erkannte auch praktisch umzusetzen. Damit sich Menschen auf den Weg machen, ihr ganzes Wissen und Können mit aller Kraft einzusetzen, muss ihnen klar sein, wofür sie das tun. Was nützt es, wenn sie die fortlaufende Umweltzerstörung und all die anderen Problem zwar kognitiv nachvollziehen, erkennen und sogar anderen erklären können, wenn sie sich nicht tief in ihrem Inneren mit der Natur, den anderen Lebewesen, anderen Menschen und oft sogar mit sich selbst verbunden fühlen? Wenn das, was sie messen, beschreiben und beobachten und worüber sie einander informieren, sie nicht wirklich berührt? Das aber ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Menschen den Mut aufbringen, sich ihres Verstandes zu bedienen.  

Durch Nutzung ihres kognitiven Potentials ist es den Menschen sogar gelungen, ein Grundprinzip der Natur vorübergehend außer Kraft zu setzen. Es handelt sich um die sich aus dem im 2. Hauptsatz der Wärmelehre ergebende Notwendigkeit zur Minimierung des eigenen Energieverbrauchs. Es zwingt alle lebenden Systeme, also jede Zelle, jeden Organismus und auch jedes soziale System, die Beziehungen seiner Konstituenten so zu gestalten, dass der Energieverbrauch für die Aufrechterhaltung der Struktur und der Leistungen des betreffenden Systems so gering wie möglich bleibt. Dank seines Verstandes ist es dem Menschen gelungen, fossile Energiereserven anzuzapfen und für seine Aktivitäten zu nutzen. Solange diese Energie in ausreichenden Mengen verfügbar war, mussten die Menschen ihr Zusammenleben nicht auf Energieersparnis ausrichten. Sie hatten genug und konnten es sich leisten, ihr Zusammenleben enorm energieaufwändig zu gestalten: voller unnötiger Konflikte, mit Mord und Totschlag, Überfällen und Unterdrückung, mit ständigen Kriegen. und einer Wirtschaft, deren einziges Ziel die Selbsterhaltung durch fortwährendes Wachstum war. Kein Wunder also, dass sich seit der Sesshaftwerdung vor etwa 10 000 Jahren der Energieverbrauch je Kopf pro Kopf um den Faktor 500 vergrößert hat. Mit der Zunahme der Weltbevölkerung Unser Vorfahren lebten während der letzten 200.000 Jahre zumeist als Jäger und Sammler in kleineren Wildbeutergesellschaften und zogen oft mit großen Tierherden mit. Ausgehend von dem Herausstellungsmerkmal der Primaten, nämlich der Fähigkeit zur Herausbildung individualisierter Gemeinschaften, entwickelten sie eine egalitäre Ordnung, in der alle Mitglieder unterschiedlichste Aufgaben übernahmen. In diesem Zeitraum erfanden sie auch die menschliche Sprache, so dass die Menschen bereits vor mindestens 40.000 Jahren über ein neuartiges, spezifisches und hochwirksames Kommunikationssystem verfügten. Damit waren sie so erfolgreich, dass sie auch den Getreideanbau und die Tierzucht erfanden und sesshaft wurden. Sie entwickelten dabei auch neuartige kognitive Fähigkeiten, wie die Erfindung von Zeichensystemen und Zahlen und für ihre immer größer werden Gemeinschaften eine hierarchisch geordnete Form des Zusammenlebens. Dieses soziale Ordnungsprinzip hat sich bis heute in vielen Bereichen, auch in demokratisch verfassten Gesellschaften erhalten. Es war enorm erfolgreich, ermöglichte das konstruktive Zusammenwirken sehr vieler Menschen zur Beherrschung von Naturgewalten, zur Sicherung der Ernährung oder zur Abwehr von Feinden. Aber es förderte auch den Wettbewerb unter den Mitgliedern dieser Gemeinschaften um Aufstiegschancen und stimulierte deren individuelle Leistungsbereitschaft und ihren persönlichen Einsatz zur Erlangung von Anerkennung, von Besitz und Macht. von ca. 2 Mio. auf 8 Mrd. hat sich der durch Menschen verursachte Energieverbrauch um den astronomischen Faktor von 2 Mio. erhöht.

Rein physikalisch betrachtet ist dieses Szenario eines kontinuierlich und  teilweise explosionsartig wachsenden Energieumsatzes mit  einem hochenergetischen Attraktor vergleichbar. Wir kennen das Szenario, in dem ein Schmetterling einen Orkan auslösen kann. Beschrieben wird damit eine energetisch hoch aufgeladene Situation, in der eine winzige Ursache gigantische Energieflüsse in Gang setzt. Diese Situation entsteht zwangsläufig durch »explosionsartige« Ausbeutung fossiler Energiequellen.

Ein ständig wachsender Energieverbrauch begünstigt und beschleunigt die Herausbildung totalitärer, auf Expansion ausgerichteter Herrschaftsregime. Ziel der Eroberung fremder Gebiete war stets deren Ausbeutung. Damit einhergehend entstanden immer effektivere und wirksamere Kommunikations- und Informationstechnologien, und es kam zu einer ständigen Erweiterung kognitiver menschlicher Fähigkeiten. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat sie in den digitalen Technologien gefunden. Die ersten Menschen sind dabei, sich mit lernfähigen Maschinen zu identifizieren, sie zu bewundern und sie als die wahren Gestalter unserer Zukunft zu betrachten.

Die Vorfahren de Pflanzen, die Grünalgen, oder genauer: die Cyanobakterien, haben die Photosynthese vor 2.3 Milliarden Jahren erfunden. Aus Sonnenlicht und Kohlendioxid wird dabei Glukose erzeugt. Dieser einfache Zucker ist der wichtigste chemische Energieträger und bildet den Grundstoff für die Herstellung aller energiereichen Kohlenhydrate. Ohne eine ausreichende Glukoseversorgung können Pflanzen und Tiere auch keine Eiweiße und Fette produzieren. Gleichzeitig entsteht bei der Photosynthese auch in die Luft freigesetzter Sauerstoff. Die Cyanobakterien, Grünalgen und Pflanzen haben durch diese Freisetzung von Sauerstoff unsere Atmosphäre erst geschaffen. Ohne sie hätte die Vielfalt pflanzlicher und tierischer Lebensformen auf unserem Planeten niemals entstehen können. Auch uns Menschen gäbe es dann nicht. Und fossile Brennstoffe auch nicht.Menschen sind aber keine Maschinen. Sie haben Bedürfnisse, und die müssen sie stillen, um lebendig zu bleiben. Roboter und Automaten haben keinen Durst und keinen Hunger, auch kein Bedürfnis, gewartet und gepflegt zu werden oder irgendetwas zu leisten. Wir können sie benutzen, um bestimmte Tätigkeiten auszuführen. Solange wir die dafür erforderliche Energie zuführen, mache sie das, wofür wir sie gebaut und programmiert haben. Sobald wir diese Energiezufuhr abstellen, stehen »alle Räder still«. Selbst der »intelligenteste« und »lernfähigste« Rechner verspürt dann keinen inneren Impuls, die unterbrochene Stromzufuhr wiederherzustellen. Weil er kein Bedürfnis hat, seine Energiezufuhr selbst sicherzustellen, kann er auch nicht lernen, wie das geht. Bei uns Menschen ist das ganz anders. Wenn uns die Energie ausgeht, erwacht ein Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme. Wir bekommen Hunger und stillen dieses Bedürfnis, indem wir etwas essen. Wir essen also Tiere und Pflanzen oder Teile davon, aber am Anfang dieser Nahrungskette steht immer ein Pflanzenfresser. Es sind also letztendlich die Pflanzen, die alle Tiere und uns Menschen mit der für unser Überleben erforderlichen Energie versorgen.

Weshalb fallen wir nicht in tiefer Ehrfurcht vor diesen Lebensspendern auf die Knie? Warum erschaudern wir nicht angesichts der Erkenntnis, wie untrennbar alles Lebendige auf diese Erde miteinander verbunden ist? Wie konnten wir verlernen, die Einzigartigkeit jedes einzelnen Schlehengebüsches, jedes Baumes, jedes Schmetterlings, jeder Haselmaus und jedes einzelnen Menschen zu bewundern und zu bestaunen? Weshalb fließen uns nicht die Tränen der Rührung über die Wangen, wenn wir einem Gänseblümchen begegnen, das sich mit all seiner Kraft durch den Asphalt des Seitenstreifens einer Straße hindurch gekämpft hat? Und warum lassen wir zu, dass unsere Kinder die chemischen Abläufe der Photosynthese auswendig lernen, ohne diese Zusammenhänge zu verstehen und sich von diesen überall in der lebendigen Natur beobachtbaren Entfaltungsprozessen berühren zu lassen?

Immanuel Kant würde sage: »Weil uns der Mut fehlt, uns unseres Verstandes zu bedienen.« Und dieser Mut fehlt uns deshalb, weil wir nicht mehr mit dem Lebendigen, oft noch nicht einmal mehr mit den lebendigen Anteilen in uns selbst verbunden sind. Deshalb behandeln wir uns selbst, andere Menschen und andere Lebewesen so, als seien sie Objekte.

Dabei verfügen wir Menschen über eine einzigartige Fähigkeit: nämlich die zur gegenseitigen »Berührung«. Um die in uns angelegten Potentiale entfalten zu können, brauchen wir Gemeinschaften, die jedem Mitglied größtmöglichen Raum für eigene Entwicklungen bietet und alle zur Entfaltung ihrer individuellen Talente und Begabungen einlädt, ermutigt und inspiriert. Das sind Gemeinschaften, deren Mitglieder sich als Subjekte erleben und einander als Subjekte begegnen.

Eine jede Berührung bedeutet, sich in ein Übergeordnetes einzuordnen und zu integrieren, das größer und umfassender ist als das betreffende Individuum. Die Individuen erleben dadurch Anteilnahme an einem größeren Ganzen. Das ist eine im klassischen Weltbild nicht vorstellbare Fähigkeit. Diese Prozesse stabilisieren sich zwangsläufig, weil sie eine Minimierung des energetischen Aufwands ermöglichen. Wenn die Berührung aller Individuen ähnlich gelagert ist, wird durch die nur minimale energetische Verkopplung gleichzeitig ein Maximum an Freiheit erzeugt. – die Idee der offenen Gesellschaft. Dies ist aus dem klassischen Weltbild nicht ableitbar.

Wir müssen also zwei Formen des Wissens unterscheiden: Zum einen das hierarchisch organisierte Wissen und Handeln. Es führt zur Gleichschaltung und Verengung von Handlungsoptionen und wird durch Wachstum mit steigendem Energieverbrauch aufrechterhalten und vermehrt. Demgegenüber steht das verbindende, durch gegenseitige Berührung entstehende Wissen und Handeln. Es ist durch eine Minimierung des Energieverbrauchs geprägt und stützt sich auf das Zusammenwirken einer größtmöglichen Vielfalt von Lebensformen. Der Einzelne erlebt sich als Teil eines größeren Ganzen, das er durch eigene Aktivität erlebt und mitgestaltet.

Frieden entsteht nicht durch die Verhinderung von offen zutage tretender Gewalt, sondern durch Hinwendung: zu unseren Mitmenschen und zu allen anderen Lebewesen, mit denen wir untrennbar verbunden sind. Wir haben in den letzten 200 Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Sollte es uns da nicht auch gelingen, das Wesen und die »Naturgemäßheit« des einander Berührens zu verstehen und besser anzuwenden?

Gerald Hüther ist Neurobiologe, Autor erfolgreicher Sachbücher und  Vorstand der Akademie für Poten tialentfaltung.

Gerhard Luhn ist Ingenieur, Forscher und Autor humanistisch-informationstheoretischer Studien.

Weiterführende Gedanken zum Thema:  Gerhard Luhn und Gerald Hüther: Die Unbestimmtheit wissenschaftlicher Theoriebildung und das Ende deterministischer Vorstellungen. Was wir gewinnen, wenn wir nicht mehr alles kontrollieren wollen, in: Naturwissenschaftliche Rundschau, 74. Jahrgang, Heft 9/10, 2021, S. 460-474.

Weitere Beiträge

Antworten

  1. Zum größten Teil geschieht Aufklärung heutzutage durch das Internet und generell die Medien. Diese Art von Aufklärung ist von bestimmten politischen und wirtschaftlichen Interessen geleitet und dient eher der gesellschaftlichen Kontrolle und Manipulation – und somit nicht der Herausbildung des eigenen Verstandes bzw. der Sinnfindung im Leben.
    Vielleicht sollte Kants Spruch “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen” eher lauten: “Habe Mut, dich deines eigenen Herzens zu bedienen”.

  2. Jeder Krieg beginnt in euren Herzen, dort aber wohnt auch die Liebe – entscheide dich!
    ……ist das Thema eines meiner vielen Bilder, die ich geschaffen habe. Es entspringt genau dieser Erkenntnis, dass wir alle untrennbar miteinander verbunden sind und uns selbst verletzten, wenn wir andere verletzen und uns selbst fördern, wenn wir andere fördern. Damit sind nicht nur Menschen gemeint, sondern alles, was lebendig ist und uns umgibt – Insekten, Pflanzen, Wassertiere, Vögel, Bäume…. ja auch Bakterien und Einzeller. Und selbst Viren haben in diesem riesigen Kosmos einen Sinn, eine Aufgabe, denn sie rufen in den unterschiedlichen Organismen Widerstandskräfte hervor, wie unser z.B. Immunsystem, das in der Lage ist, unseren Körper effizient zu schützen.
    Wenn wir die Verbundenheit mit allen und allem spüren, kann unsere Vernunft, wenn wir sie nutzen, wie Kant sagt, gar nicht anders, als sich für den Frieden zu entscheiden, denn jede Zerstörung zerstört auch uns selbst. Wollen wir das wirklich?