Härte und Liebe

„Als ich mich selbst zu lieben begann“, so beginnt ein Gedicht von Kim McMillen. Auch die „Schale der Liebe“ von Bernhard von Clairvaux spricht von der Selbstliebe.
Ich kannte diese Texte, doch ich maß ihnen keine Bedeutung bei. Ich konnte mich nicht selbst lieben, wusste gar nicht, wie das geht. Ich war hart gegen mich selbst, und nicht zärtlich und liebevoll. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, das war mein Leben.
Ich verstehe heute die Gründe. Mein Vater verprügelte mich in meiner Kindheit. Es war ihm egal, wo er mich traf, weil er keine Kontrolle darüber hatte. Ihm erging es in seiner Kindheit nicht anders. Meine Großmutter hatte diese Härte, weil mein Großvater nicht aus dem Krieg zurückkehrte und sie allein mit zwei Kindern den Hof, die Äcker und das Vieh versorgen musste. Meine Mutter musste mit anpacken, sie verpasste ihr Leben. Sie konnte mich nicht vor meinem Vater schützen, weil sie hilflos war. Und alle drei gaben die Härte an mich weiter. Es ging auch mit viel emotionaler Gewalt einher. Ich habe keinen Groll mehr in mir, weil ich es im Herzen verstanden habe. Allen gemeinsam war, dass sie nicht lieben konnten, sich selbst nicht, und mich auch nicht.
Ich erinnere mich daran, als ich im Winter beim Schlittenfahren an einer Wurzel hängenblieb und in voller Fahrt vom Schlitten gerissen wurde. Meine Cousine zog mich auf dem Schlitten nach Hause, weil ich vor Schmerzen am linken Bein nicht gehen konnte. Es war Wochenende. Meine Mutter glaubte mir nicht, dass es weh tut. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. In der Schule war nämlich meine Versetzung gefährdet. Ich sollte üben aufzutreten, es würde schon gehen, ich müsste ja am Montag wieder in die Schule gehen. Ich bemühte mich, das Gehen zu üben, aber der Schmerz war unerträglich. Später stellte sich heraus, dass das Bein gebrochen war, 6 Wochen Liege-Gips wurden nötig, von den Zehen bis ganz nach oben. Ein Schulfreund brachte mir die Hausaufgaben nach Hause.
Ich musste erst alt werden, bis ich realisieren konnte, wie krank meine Kindheit war. Mir wurde Härte vorgelebt. Es war für mich “normal”. Ich hatte als Erwachsener diese Härte gegen mich selbst, und unterbewusst erwartete ich sie auch von anderen. Ich konnte nicht lieben, mich selbst nicht, und andere auch nicht. Ich sehnte mich nach Liebe, doch das war mir nicht bewusst. Ich konnte Liebe nicht aushalten, weil ich sie nicht kannte, und musste deswegen regelmäßig vor ihr fliehen. Ich ging aus Pflichtgefühl krank zur Arbeit, hielt mich dort für unentbehrlich. Wenigstens konnte ich mir mit zunehmendem Alter erlauben, auch mal krank zu sein. Und auf meiner Pilgerwanderung 2020 brach dieses ganze System aus Glaubenssätzen wie ein Kartenhaus zusammen, und der ganze verdrängte Schmerz überflutete mich. Viele Tränen sind geflossen.

In der Trauma-Therapie lernte ich zu vergeben, allen, die nicht lieben konnten, inklusive mir selbst. Ich lernte, mich selbst zu lieben, und das verletzte und alleingelassene innere Kind in mir. Ich lernte, wie das geht. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich nicht mit dem Kopf, ich lernte mit dem Herzen.
Ich liebe mich nun so sehr, dass meine Schale der Liebe bis zum Rand gefüllt ist und ständig überläuft. Meine Liebe ist grenzenlos geworden. Ich kann nun Liebe weitergeben. Ich kann bedingungslos lieben. Bedingungslos, das heißt nicht: Liebe bis zur Selbstaufgabe. Nein, im Gegenteil: Es heißt, dass ich so viel Sicherheit und Geborgenheit und Selbst-Vertrauen und Liebe in mir habe, dass ich Liebe geben kann, selbst dann, wenn ich von außen keine Liebe empfange. Meine Schale der Liebe wird nicht mehr von außen aufgefüllt, sondern von innen.

Anm.d.Red.: Wir respektieren die Sicht des Verfassers, dass sein Name hier nicht von Bedeutung ist.

Weitere Beiträge

Antworten

  1. Lieben Dank für die Offenheit und das Teilen Deiner berührenden und inspirierenden Geschichte. Sie zeigt wieder einmal, dass gleich welche Erfahrungen und Prägungen wir erlebt und ggf. in unserem eigenen Leben, meist unbewusst, weiter geführt haben, wandelbar ist und in Balance kommen kann, wenn wir offen und bereit dafür sind. Besonders berührt hat mich Dein Satz/Zitat: “Ich konnte Liebe nicht aushalten, weil ich sie nicht kannte, und musste deswegen regelmäßig vor ihr fliehen…” Ist es nicht oft so, dass wir Angst vor etwas Unbekannten haben, was uns zu überrollen drohen könnte?! Als ich gerade von Mut schreiben wollte, fiel mir die kleine Geschichte eines Kindes ein (sinngemäß wiedergegeben, gleich welchen Geschlechts), was auf dem 5 Meter Brett im Schwimmbad stand, auf die Kumpel unten sah und viel Mut brauchte um zu springen…Ein anderes ging hoch und sprang, er brauchte keinen Mut, denn es wollte voller Vorfreude die Erfahrung machen, wie es ist aus sich selbst heraus ins Wasser zu “fliegen”. Wie schön, dass Du Dir die Erlaubnis gegeben hast, ins Unbekannte zu gehen, offen für neue Erfahrungen, Unterstützung gefunden hast und auch wenn es sicherlich nicht immer einfach war, jetzt das Wunder der gefühlten Liebe in Dir erfährst. Wünsche Dir ein erfülltes Wunder-volles weiteres Leben aus dem Herzen heraus!!! Liebe Grüße, Gitte

  2. Vielen dank für deinen sehr berührenden, tiefgehenden und so wichtigen Teil deines Lebens, den du mit uns teilst. Das macht sehr viel Mut, Zuversicht, Hoffnung auf einen Neubeginn in Liebe. So ist hilfreich für uns alle. Mit lieben Grüssen zu dir, Beatrice

  3. Danke, für diesen berührenden, offenen Einblick.
    Erst nach dem Tod meines Mannes habe ich erkennen können, dass meine ” grosse ” Liebe meine grossen Bedürfnisse ausdrückte. Fülle in mir selbst zu finden, im liebevollen SEIN will jeden Tag neu gelebt werden.

  4. Danke für diese Offenheit und deinen Bericht !
    So einiges kommt mir sehr bekannt vor und auch noch mit 66 Jahren erkenne ich, weiter gehts liebevoller mit mir zu sein, denn die Härte gegen mich darf gehen …
    LG Nadarah

  5. Ich wünsche dir von Herzen, dass deine neuen Erfahrungen und die Begegnungen mit deinen Traumatisierungen nachhaltig bleiben. Jeden Tag sehen, hören und erfahren wir, wie lieblos viele Menschen miteinander umgehen.
    Kürzlich bekam ich von einer Freundin einen Video Vortrag von dem Psychologen und Psychiater Dr. Hans-Joachim Maaz. Er erklärte in seinem Vortrag sehr genau, warum wir Menschen ggfs. „böse“ werden. Zunächst konnte ich mit diesem Begriff nicht umgehen. Seine differenzierten und deutlichen Erklärungen aber waren für mich sehr erhellend.
    Aktuell beschreibt er in seinem neuesten Buch „Friedensfähigkeit und Kriegslust“ sehr genau, warum so viele Menschen sich so selbstverständlich und ohne zu zögern dafür aussprechen, sich an einem Krieg zu beteiligen. All diesen Menschen fehlte die Liebe ihrer Mütter und Väter und den Menschen mit denen sie sich so gern verbunden fühlen möchten.