Im Sumpf
Niemand kann etwas dafür, in welcher Gesellschaft er aufgewachsen ist und wie er erzogen wurde. Aber jeder kann durchaus etwas dafür, was er später draus macht, ob er nur voller Angst in seinem Sumpf stecken bleibt oder ob er mit aller Kraft versucht, sich zu befreien.
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Jeder reagiert auf seine Weise darauf, dass er in einem Sumpf steckt, der ihn tagtäglich behindert. Die einen richten es sich so ein, dass sie die Behinderung gar nicht mehr spüren, dass sie sich eigentlich ganz wohl zu fühlen scheinen. Sie achten darauf, möglichst still zu halten, damit sie nicht zu schnell versinken, halten sich die Nase zu und fühlen sich vielleicht recht sicher. Die anderen konzentrieren sich ganz darauf, das langsame Versinken möglichst angenehm zu gestalten. Durch Gewohnheit und vermeintliche Sicherheit beziehungsweise durch die vielen Annehmlichkeiten merken es diese Menschen meist nicht mehr, dass sie allmählich in einem schrecklichen Sumpf versinken. Und wenn es ihnen in einer stillen Stunde mal wieder zu Bewusstsein kommt, lässt es sich mit Alkohol, Nikotin und anderen Drogen leicht und mühelos vergessen. Oberflächliche Vergnügen, meist schal und leer im Geschmack, vermitteln dann ganz schnell wieder das Gefühl, es ginge einem so gut wie noch nie.
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Es gibt andere, denen es durchaus bewusst ist, dass in diesem Sumpf langsam, aber sicher jeder bis auf den Grund gezogen wird, ohne jemals wirklich in der Sonne gelebt zu haben. Auch hier gibt es wieder zwei Möglichkeiten zu reagieren. Die einen reden die ganze Zeit darüber, wie schön es an der Sonne wäre, wie der ganze Sumpf einem stinkt und wie schön es wäre, da raus zu kommen. Aber das ist auch alles. Ansonsten leben sie genauso wie alle anderen. Die Vergnügungen mögen etwas anders aussehen, vielleicht bewegt sich der eine oder andere etwas mehr, versucht mal diese oder jene Haltung, aber das wäre dann auch schon alles. Die zweiten schlagen verzweifelt um sich, sind dauernd in Bewegung und meinen, sie würden durch ihre Aktivität mit der Zeit den Sumpf verändern. Doch das geht nicht. Die meisten von ihnen versinken noch schneller als alle anderen. Man kann nicht mitten im Sumpf stecken bleiben und dabei hoffen, nicht zu versinken oder vorher den Sumpf trockengelegt zu haben. Der einzige Weg aus dem Sumpf ist der, ihn zu verlassen. In aller Ruhe ausfindig zu machen, wo ein fester Weg ist, Hilfsmittel und Freunde zu finden und sich gegenseitig aus dem Sumpf zu helfen. Nicht still stehen zu bleiben und jede Veränderung abzulehnen, nicht sich betäuben in der Hoffnung, den Sumpf zu vergessen. Auch nicht blindlings um sich schlagen und den Sumpf zu bekämpfen, an dem zu viele noch verzweifelt festhalten. Aber auch nicht von einer Welt ohne Sumpf reden und träumen, sondern sie verwirklichen, soweit wie es jedem möglich ist.
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Die meisten Menschen lernen durch Vorbilder. Nicht durch reden, sondern durch das, was sie sehen. Wenn die Menschen, die wissen, wie man besser leben kann, es wirklich tun würden und nicht nur davon reden, wer weiß, ob ihnen nicht viele auf dem besten Weg folgen würden. Suchende gibt es genug.
(Heinz Körner: Johannes. S.76-78. Lucy Körner Verlag 1978)
Vielleicht ist ja für den einen oder anderen von euch unsere Plattform Liebevoll.jetzt zu diesem festen Weg geworden, wo man Hilfsangebote und Freunde findet, um sich gegenseitig „aus dem Sumpf“ zu helfen. Wenn ihr eure Liebevoll.jetzt-Erfahrungen mit anderen teilen möchtet, schreibt an kontakt@liebevoll.jetzt. Die ersten Berichte sind bereits hier veröffentlicht worden.
Astrid und Birgit vom Redaktionsteam
Ich war sehr berührt und habe mich z. T. selbst wieder erkannt in diesen tiefgründigen Beschreibungen. Ging es noch jemandem so, dass man aus dem Staunen über so detaillierte Einsichten nicht heraus kam?
Mit einem Satz hatte ich aber ein Verständnisproblem: Man kann nicht mitten im Sumpf stecken bleiben und dabei hoffen, nicht zu versinken oder vorher den Sumpf trockengelegt zu haben.
… bis ich darauf kam, dass es statt “oder” wohl “ohne” heißen sollte.
Ganz herzlichen Dank für diesen Hinweis. In der zugrundeliegenden Textfassung steht “oder” statt “ohne” und wurde deshalb so übernommen. Vielleicht könnte jemand, der über das Buch verfügt, dies noch mal recherchieren.
Deine (sinnvolle) Korrektur, erinnerte mich daran, dass die Autorin Louise L. Hay ihre Leser in einem Vorwort aufforderte, Textpassagen, die für den Leser individuell keinen Sinn machen für sich selbst sinngebend umzuschreiben. An diese sinnvolle Möglichkeit habe ich lange nicht mehr gedacht…
Liebe Astrid, liebe Birgit,
herzlichen Dank für diesen Auszug aus Heinz Körners Kultbuch JOHANNES. Für mich ist euer Beitrag auch eine Erinnerung an ein Buch, das für mich ein sehr seltenes, ja mystisches Flair hat, warum ich es auch als Kultbuch bezeichne. Ich habe das Buch in meinen jungen Erwachsenenjahren immer wieder gelesen, vieles unterstrichen und es gehört zu den Büchern, das mir sehr viel praktikable Hilfe und Einsicht geschenkt hat. Das zeitlose Buch ist 1978 erschienen und in Anlehnung an Birgit könnte ich hier auch sagen: „Das Buch weckt uralte Erinnerungen, meine Güte, ist das lange her…“ Es ist ein kleines schmales Büchlein und ich werde gleich mal weiter in meinem Bücherschrank nach ihm suchen…
Liebe Grüße
Heion